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Das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwoch, 25. Juli 2012, das Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig erklärt. Der Zweite Senat unter Vorsitz von Prof. Dr. Andreas Voßkuhle gab damit den Verfassungsklagen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie von über 3.000 Bürgern statt. Die Richter erklärten in ihrem Urteil (Aktenzeichen: 2 BvF 3 / 11) zentrale Bestimmungen zur Zuteilung der Abgeordnetensitze für unwirksam, weil sie gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien verstoßen.
"Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird in seinen Begründungen und Hinweisen intensive und wohl auch kontroverse Diskussionen sowohl in der Politik wie in der Wissenschaft auslösen", sagte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert nach Verkündung des Urteils. Unabhängig davon sei der Gesetzgeber verpflichtet, die beanstandeten Regelungen zur Zuteilung der Sitze auf die konkurrierenden Parteien verfassungsgerecht zu korrigieren. "Dabei empfiehlt es sich dringend, zwischen den Fraktionen des Deutschen Bundestages eine möglichst einvernehmliche Lösung zu finden, um auch nur den Anschein einer Begünstigung oder Benachteiligung einzelner Parteien oder Kandidaten zu vermeiden", sagte Lammert.
Damit muss noch vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr vom Deutschen Bundestag ein neues Wahlrecht beschlossen werden. "Angesichts der Vorgeschichte des neuen Wahlrechts sieht der Senat keine Möglichkeit, den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren", sagte Voßkuhle in seiner Urteilsbegründung.
Die Richter beanstandeten vor allem den Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts. Dieses könne dazu führen, dass die Abgabe einer Stimme der jeweiligen Partei bei der Berechnung der Abgeordnetenzahl im Ergebnis schade. Grund hierfür sei die Bildung von Sitzkontingenten in den einzelnen Bundesländern. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag dürfe die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Wählerstimmen im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliere, begründeten die Verfassungsrichter ihr Urteil. Solche widersinnigen Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg beeinträchtigten nicht nur die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien, sondern würden auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verstoßen, da es für den Wähler nicht mehr erkennbar sei, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann, so die Richter.
Das Verfassungsgericht kritisierte auch, dass das Wahlrecht die Möglichkeit zahlreicher Überhangmandate schaffe. Solche Zusatzmandate können entstehen, wenn eine Partei mehr Sitze im Parlament über Direktmandate in den Wahlkreisen gewinnt, als es ihrem Anteil an Zweitstimmen entspricht. Mit der Zweitstimme wählt der Bürger eine Partei. Diese Überhangmandate kommen tendenziell den großen Parteien zugute - bei der vergangenen Bundestagswahl 2009 gingen alle 24 Überhangmandate an die CDU/CSU-Fraktion.
Laut Urteil verstößt die Regelung zu den Überhangmandaten (Paragraf 6 Absatz 5 des Bundeswahlgesetzes) insoweit gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, als ausgleichslose Überhangmandate in einem Umfang zugelassen werden, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben kann. Dies ist der Fall, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet. Überhangmandate seien zwar nicht grundsätzlich verboten, entschieden die Karlsruher Richter. Es dürften jedoch nicht so viele werden, dass sie "den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben". Die Höchstgrenze dürfe bei maximal 15 Überhangmandaten liegen, so Voßkuhle.
Bereits 2008 hatten die Karlsruher Richter das frühere Wahlrecht für teilweise verfassungswidrig erklärt und innerhalb von drei Jahren eine Neuregelung verlangt. Das Gericht hatte damals im Streit um das sogenannte negative Stimmgewicht eine Reform bis Juli 2011 verlangt und entschieden, dass die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl nach Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt waren – soweit ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann ("negatives Stimmgewicht").
In namentlicher Abstimmung hatte der Bundestag daraufhin am 29. September 2011 den Gesetzentwurf von CDU/CSU und FDP zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (17/6290) in der vom Innenausschuss geänderten Fassung (17/7069) angenommen. 294 Abgeordnete der Koalition votierten dafür, 241 Abgeordnete aus der Opposition dagegen. Gegen diese Änderungen richteten sich die jetzt entschiedenen Verfahren, darunter ein Normenkontrollantrag von 214 Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie eine von 3.063 Beschwerdeführern gemeinsam erhobene Verfassungsbeschwerde. (ah/eis)