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Fünf Tage lang, vom 25. bis 29. Januar, haben sich 80 Jugendliche aus mehreren Ländern auf Einladung des Deutschen Bundestages in der Ukraine aufgehalten und sich vor Ort über die Verbrechen der Nationalsozialisten und die dortige Erinnerungskultur informiert. Nach ihrer Rückkehr nahmen sie am Mittwoch, 30. Januar 2013, an der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus teil und trafen zu einer Podiumsdiskussion mit Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert, dem französischen Pater Patrick Desbois und Deidre Berger vom American Jewish Committee in Berlin zusammen. Titel des Gesprächs: "Die Gegenwart der Vergangenheit: Die Lokalisierung von Stätten nationalsozialistischer Massenerschießungen in der Ukraine und der Umgang mit ihnen".
"Der Holocaust ist ein zentraler Bestandteil der Geschichte meines Landes, unseres Landes", sagte Lammert. Deshalb müsse man sich ihm stellen: "Niemand kann aus einer Biografie austeigen." So wenig dies für eine Person gelte, so wenig sei es für ein Land möglich.
In Deutschland habe sich aufgrund der gemachten historischen Erfahrungen eine "besonders intensive Erinnerungskultur" entwickelt, so Lammert. Diese ruhe auf den zwei Säulen "zivilgesellschaftliches Engagement" und "staatliche Verantwortung". Beide Säulen bauten aufeinander auf und seien nicht auswechselbar. Ansonsten verkäme staatliches Erinnern zur "Hülle ohne Inhalt" oder es fehlte der Nachweis der Ernsthaftigkeit des Umgangs mit dem Thema.
Die 17- bis 24-jährigen Teilnehmer an dieser 17. internationalen Jugendbegegnung des Bundestages erkundigten sich danach, was man tun könne, um immer noch vorhandene antisemitische und rechtsradikale Tendenzen in der Bevölkerung zu bekämpfen und ob es notwendig sei, ein eigenes Schulfach "Demokratie" einzuführen. Dazu bedürfe es keines eigenen Schulfaches, so Lammert. Das Thema müsse "in allen Fächern angesprochen werden".
Er sei froh, dass sich solche Tendenzen in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern noch nicht in entsprechenden Wahlentscheidungen geäußert hätten. Was nirgends zu tolerieren sei, sei in Deutschland "unerträglich". Lammert rief die Teilnehmer dazu auf, sich weiter zu engagieren und die Demokratie zu leben.
Pater Desbois ist Beauftragter der französischen Bischofskonferenz für die Beziehungen zum Judentum und Vorsitzender der Organisation "Yahad – In Unum". Die Organisation wurde 2004 von ihm gegründet und setzt sich dafür ein, Massengräber in Osteuropa zu dokumentieren und zu erhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse oft erst einmal die Faktenlage gesichert werden, erklärte Desbois seine Arbeit.
Deshalb führe seine Organisation Tausende Interviews mit Zeitzeugen in Osteuropa. Manche der Befragten würden dabei zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg über ihre schrecklichen Erlebnisse berichten. Anhand dieser Gespräche lokalisiere "Yahad – In Unum" Massengräber und rekonstruiere, was geschehen sei.
Deidre Berger vom American Jewish Committee berichtete von der Schwierigkeit, solche Massengräber zu schützen. Oftmals seien sie sehr abgelegen oder bereits wieder überbaut. Dann arbeite man mit lokalen Stellen zusammen, um eine würdige Bestattung der Getöteten zu garantieren. "Ein Krieg ist erst vorbei, wenn alle Opfer beerdigt sind", begründete sie ihre Motivation.
Pater Desbois äußerte seine Bewunderung für die deutsche Erinnerungskultur und -politik. "Deutschland hat es geschafft, auf einzigartige Weise eine Demokratie aufzubauen, ohne zu vergessen." Er selbst sei sehr kritisch gegenüber Deutschland erzogen worden, daher freue es ihn zu sehen, dass sich so viele junge Menschen mit dem Thema auseinandersetzen.
Allgemein verwies Desbois auf die Verantwortung, sich seiner Geschichte zu stellen. Das gelte nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt. "Die Shoah ist keine deutsche Besonderheit", sagte er, "sondern eine Krankheit der gesamten Menschheit". (jbb/30.01.2013)