Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > > Alterspräsidenten
Das Amt des Alterspräsidenten ist parlamentarische Tradition und Teil der Geschäftsordnung des Bundestages. Ein Amt von hoher Würde, aber nur von kurzer Dauer. Es hat sich nach traditioneller Praxis mit der Wahl des neuen Bundestagspräsidenten erschöpft. Obwohl er nicht in sein Amt gewählt wird, sondern in seiner Eigenschaft als ältester Abgeordneter zu dieser Ehre kommt, ist es anerkannte Tradition, dass der Alterspräsident die erste Rede vor dem Plenum hält. Bisher haben alle Alterspräsidenten der Bundesrepublik von dieser Tradition Gebrauch gemacht und dabei eigene Akzente gesetzt.
Vier Jahre nach der deutschen Vereinigung kommt erstmals ein Abgeordneter aus den ostdeutschen Bundesländern zu Wort. Der Schriftsteller Stefan Heym (1913-2001) hat als Parteiloser auf der offenen Liste der PDS kandidiert und ein Direktmandat erlangt.
Der 81-Jährige ist der älteste Abgeordnete des 13. Deutschen Bundestages. Nach der Geschäftsordnung und der Tradition fällt ihm damit die Aufgabe zu, als Alterspräsident die erste Sitzung zu eröffnen.
Dass in diesem Amt jemand für die PDS zu Wort kommt, will die Unionsfraktion nicht ohne weiteres hinnehmen. Als sich wie üblich die Fraktionen und die Ehrengäste zur Sitzungseröffnung durch den Alterspräsidenten erheben, bleiben die Unionsabgeordneten sitzen.
Gut gelaunt eröffnet Stefan Heym am 10. November 1994 die konstituierende Sitzung des 13. Deutschen Bundestages im Berliner Reichstagsgebäude. Er erinnert in seiner Rede an seinen Amtsvorgänger Willy Brandt und an die letzte Alterspräsidentin des Reichstages, Clara Zetkin, das dann folgende Ende der Weimarer Demokratie und den Reichstagsbrand, den er selbst erlebt hat.
Er spricht kurz über seine Biografie, beginnt mit der Flucht 1933 und wie er Deutschland erst in amerikanischer Uniform wiedersieht. Er erzählt über seine späte Rückkehr in die DDR und wie er dort bald in Konflikt mit den Autoritäten gerät. Dass einer mit seiner Biografie den zweiten Bundestag des wiedervereinigten Deutschlands eröffnen darf, bestärkt seine Hoffnung, dass unsere heutige Demokratie doch solider gegründet sein mag als es die Weimarer war.
Im weiteren Verlauf seiner Rede verweist er darauf, dass das vereinigte Deutschland in der Welt "eine Bedeutung erlangt habe, der voll zu entsprechen wir erst noch lernen müssen." Er fragt, ob es nicht auch Erfahrungen aus der ehemaligen DDR gebe, die vom Westen übernommen werden sollten. Für diese Debatte sei "gegenseitige Toleranz und gegenseitiges Verständnis unserer unterschiedlichen Gedanken vonnöten."
Sein Appell an die Mitglieder des Hauses: "Die Menschen erwarten, daß wir uns als Wichtigstes mit der Herstellung akzeptabler, sozial gerechter Verhältnisse beschäftigen." Dies sei Aufgabe einer "Koalition der Vernunft, die eine Koalition der Vernünftigen voraussetzt."
Nach seiner Rede verweigert ihm die Unionsfraktion mit Ausnahme Rita Süssmuths geschlossen den Applaus. Einige Unionsabgeordnete verlassen den Saal. In Deutschland und im Ausland sorgt dieses Verhalten zum Teil für Aufmerksamkeit und Unverständnis. Als die Bundesregierung den Abdruck im Bulletin verzögert, führt dies am 19. Januar 1995 zu einer Debatte im Bundestag.
Ein Jahr nach der Wahl legt Heym sein Bundestagsmandat nieder. Aus Protest gegen die geplante Diätenerhöhung der Abgeordneten verabschiedet er sich im Oktober 1995 aus der Politik.
Heym stirbt am 16. Dezember 2001 in Jerusalem. (klz/09.10.2013)