Ex-Finanzminister Waigel fordert von Brüssel Subsidiaritäts-Offensive Interview mit der Zeitung "Das Parlament"

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 28. April 2014)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –

 Der frühere Bundesfinanzminister und Ex-CSU,-Chef Theo Waigel, hat von der EU eine große Aktion zur „gelebten Subsidiarität“ verlangt. Die EU müsse prüfen, „ob wirklich alles, was in Brüssel geregelt wird, nicht national oder regional geregelt werden kann“, sagte Waigel in einem Interview mit der Berliner Wochenzeitung „Das Parlament“ zur bevorstehenden Europawahl. „Wenn aus einer früheren Allgäuer Molkerei eine Ausflugsgaststätte werden soll, wo herrliche heimische Käseprodukte angeboten werden, muss dies wirklich nicht in Brüssel entschieden werden.“ Dies sei zum Beispiel ureigene Aufgabe der regionalen bayerischen Wirtschaftspolitik.

Zum Streitthema des „Sozialtourismus“ von Bürgern ärmerer Staaten mahnte Waigel, gegen den Missbrauch der Sozialsysteme vorzugehen. Es müsse „Maßnahmen geben gegen Schleuser, die Leute ohne Arbeitserlaubnis hereinbringen, oder gegen Einwanderer, die nur Zugang zum deutschen Sozialsystem haben wollen“. Zudem müsse hier auch rechtlich einiges geklärt werden. Waigel: „Man kann nicht argumentieren, das hänge vom Einzelfall ab. Es muss von den rechtlichen Gegebenheiten abhängen, ob jemand hier Sozialleistungen bekommt oder nicht. Die müssen klarer bestimmt werden.“

Waigel zeigte sich auch zuversichtlich, dass es nach den Europawahlen vom 22. bis 25. Mai trotz aller Europaskepsis und anwachsender populistischer Parteien „im Europaparlament weiter eine proeuropäische Mehrheit geben wird“ und auch künftig bei den nationalen Wahlen „proeuropäische Regierungen“ gebildet werden würden.

 Das Interview im Wortlaut:

Herr Waigel, seit 1979 sinkt bei den Europawahlen die Beteiligung, hierzulande lag sie zuletzt 2009 bei rund 43 Prozent. Fürchten Sie, dass es im Mai weiter bergab geht?
Das kann sein. Dennoch wäre dies kein Misstrauen gegenüber Europa, weil es das gleiche Phänomen auch bei Kommunal- oder Landtagswahlen gibt. Ein Problem sehe ich aber darin, dass viele Politiker skeptisch über Europa reden. Man kritisiert gerne das anonyme Brüssel oder die EU-Bürokratie. Da mag vieles berechtigt sein. Mir fehlt bei manchen Kritikern aber die große Linie. Man muss sehen, was uns Europa gebracht hat. Als 1957 die europäischen Verträge unterzeichnet wurden, war ich ein 18-jähriger Oberschüler und habe mich gefragt, was bringt mir die Zukunft? Mein Großvater hat drei Kriege erlebt, mein Vater war Soldat in zwei Weltkriegen, mein älterer Bruder ist mit 18 im Zweiten Weltkrieg gefallen. Heute kann ich sagen: 95 Prozent von dem, was ich mir als 18-Jähriger erhofft habe, ist in Erfüllung gegangen. Wir leben heute in der besten aller Zeiten. Man muss nur den Mut haben, das auch zu sagen.

Viele Bürger liebäugeln derzeit mit europakritischen oder populistischen Parteien. Bekommen wir im Mai das antieuropäischste EU-Parlament aller Zeiten?
Das glaube ich nicht. Die europäischen Völker und Staaten sind damit immer wieder fertig geworden. In Deutschland ist das deshalb problematisch, weil wir weltweit beobachtet werden. Wenn bei uns eine rechtspopulistische Partei fünf Prozent bekommt, bringt das Schlagzeilen bis nach Asien. Wenn in den Niederlanden oder Finnland solche Parteien Erfolg haben, gilt das als normal. Bisher ist es bei nationalen Wahlen in Europa immer gelungen, proeuropäische Regierungen zu bilden. Ich bin davon überzeugt, dass es auch im Europaparlament weiter eine proeuropäische Mehrheit geben wird.

Erstmals gibt es gesamteuropäische Spitzenkandidaten, es spitzt sich auf den Kampf Juncker gegen Schulz zu. Könnte das belebend sein für die Wählermotivation?
Teilweise. Jean-Claude Juncker wie Martin Schulz sind ja überzeugte Europäer und haben in Europa Profil gewonnen. Trotzdem werden auch diesmal nationale Matadore eine wichtige Rolle spielen. In Deutschland zum Beispiel Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in den vergangenen Jahren eine ganz wichtige Rolle in Europa gespielt hat.

Sollte der nächste Kommissionspräsident nach einem halben Jahrhundert, nach Walter Hallstein, nicht mal wieder ein Deutscher sein, also Martin Schulz?
Es kann auch jemand anderes sein. Es wäre aber gut, wenn die großen Länder den Verantwortungsbereich, den sie automatisch abdecken, auch stärker repräsentativ erfüllen. Da ist Deutschland in den vergangenen 20 Jahren durch zu viel Bescheidenheit aufgefallen.

Laut Lissabon-Vertrag soll der nächste Kommissionspräsident „im Licht des Ergebnisses der Europawahl“ bestimmt werden. Aber nach wie vor schlagen die Regierungschefs den Kommissionspräsidenten vor. Wie sehen Sie das?
„Im Licht der Europawahl“ heißt ja „im Licht der Mehrheitsverhältnisse im Parlament“. Das bedeutet aber nicht, dass der Spitzenkandidat automatisch Kommissionspräsident wird. Es bedarf der Entscheidung durch die Regierungschefs.

Ein Aufregerthema bei uns ist der Sozialtourismus von Bürgern aus ärmeren Ländern in reichere Staaten. Derzeit liegen die Fälle beim Europäischen Gerichtshof, wo es um eingereiste EU-Bürger geht, die hier nie Beiträge eingezahlt oder gearbeitet haben, aber Hartz-IV-Leistungen wollen. Ist das ein Sprengsatz für die europäische Idee?
Nein. Auf der einen Seite sind wir froh über vernünftige Zuwanderung qualifizierter, notwendiger Kräfte. Wenn die Demografie in Deutschland nicht ausreicht, um unser Sozialsystem und Wirtschaftswachstum zu sichern, muss geordnete Zuwanderung stattfinden. Gegen den Missbrauch der Sozialsysteme muss aber vorgegangen werden. Zum Beispiel muss es Maßnahmen geben gegen Schleuser, die Leute ohne Arbeitserlaubnis hereinbringen, oder gegen Einwanderer, die nur Zugang zum deutschen Sozialsystem haben wollen. Da muss auch rechtlich einiges geklärt werden. Man kann nicht argumentieren, das hänge vom Einzelfall ab. Es muss von den rechtlichen Gegebenheiten abhängen, ob jemand hier Sozialleistungen bekommt oder nicht. Die müssen klarer bestimmt werden

Eine Frage zur europäischen Währungsunion: Für die Rettung kriselnder Euro-Staaten sind inzwischen wesentliche Prinzipien der Maastricht-Verträge über Bord geworfen, so die no-bail-out-Regel. Wie traurig sind Sie darüber als einer der Maastricht-Architekten?
Ich bin traurig darüber, dass ein Land wie Griechenland aufgenommen wurde, das nach den Kriterien nicht die Voraussetzungen für den Euro-Beitritt erbracht hatte. Wenn ein Land drin ist, kann man es nicht ohne weiteres wieder herauswerfen. Deshalb halte ich das, was inzwischen für gefährdete Länder getan wurde, insgesamt für richtig. Die no-bail-Klausel besagt, ich hafte nicht für die Schulden anderer. Dabei muss es bleiben. Das kann mich aber nicht davon abhalten, freiwillig Hilfe zur Selbsthilfe, einer konditionierten Hilfe, zu geben. Bei Irland, Spanien oder Portugal zeigt sich, dass dies durchaus erfolgreich praktiziert wurde. Auch Griechenland zeigt beachtliche Fortschritte.

Wütend bin ich darüber, dass der Stabilitätspakt, den wir 1996 unter viel Mühen durchgesetzt haben, ausgerechnet von Deutschland aufgeweicht und mit Unterstützung Frankreichs und Italiens sogar geändert wurde. Das hat viel Vertrauen gekostet, auf die eine Vertragsgemeinschaft wie die Währungsunion angewiesen ist. Dieses Vertrauen muss jetzt wieder neu gewonnen werden – durch den Fiskalpakt, die Schuldenbremse, das Europäische Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die makroökonomische Überwachung. Um den Euro aber braucht man sich keine Sorgen zu machen. Er liegt heute um etwa 20 Cent höher als die D-Mark bei ihrem Abschied.

Wo sehen Sie noch Reformbedarf in der EU?
Die EU müsste eine große Aktion starten zur „gelebten Subsidiarität“. Die Solidarität für kriselnde Länder hat Brüssel in den vergangenen Jahren unter Beweis gestellt. Die EU muss nun aber prüfen, ob wirklich alles, was in Brüssel geregelt wird, nicht national oder regional geregelt werden kann. Wenn aus einer früheren Allgäuer Molkerei eine Ausflugsgaststätte werden soll, wo herrliche heimische Käseprodukte angeboten werden, muss dies wirklich nicht in Brüssel entschieden werden. Dies ist ureigene Aufgabe der regionalen bayerischen Wirtschaftspolitik. Jeder EU-Kommissar sollte darüber nachdenken, bei welcher Verordnung oder Richtlinie es besser wäre, die Dinge wieder national oder regional zu regeln.

Wie muss die EU in der Ukraine-Russland-Krise reagieren?
Die EU hat richtig reagiert, als sie bei der Krim-Annexion auf das Völkerrecht und die Londoner Vereinbarungen von 1994 hingewiesen hat und dass Russland diese Vereinbarungen gebrochen hat. Es muss Moskau klar gemacht werden, dass eine weitere Destabilisierung der Ukraine nicht akzeptabel ist. Gleichwohl müssen wir mit Russland weiter im Gespräch bleiben, auch bei der Einbeziehung Kiews in das europäische Geflecht. Die Zeiten des Kalten Kriegs oder der Nachrüstung dürfen nicht wiederkommen. Da sollte auch die Außenpolitik der EU offensiver und sichtbarer werden.

Sollte die Ukraine eine EU-Beitrittsperspektive haben?
Das sehe ich in absehbarer Zeit nicht. Man sollte Partnerschaftsbeziehungen pflegen und Kiew helfen. Man darf das Land aber nicht vor eine Entweder-Oder-Situation stellen. Dabei muss Russland in diese Gespräche einbezogen werden.