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Auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum Anfang Februar 1990 zeichnete Hans Modrow ein ungeschminktes Bild der DDR-Wirtschaft. Der Zerfall der DDR beschleunige sich täglich, ließ der DDR-Regierungschef den deutschen Bundeskanzler am Rande des internationalen Treffens wissen. Bis Ende 1989 sei die Lage noch einigermaßen stabil gewesen. Aber jetzt sei die Autorität der Regierung auch auf der lokalen Ebene im Schwinden begriffen. Die DDR, erfuhr Helmut Kohl dabei, brauche sofort 15 Milliarden DM, um eine finanzielle Katastrophe im März abzuwenden. Eine rasche Zusammenführung der beiden deutschen Staaten sei nach Ansicht Modrows unvermeidlich.
Damit war der Anstoß gegeben für jene in der jüngeren Geschichte wohl beispiellose Vereinigung zweier Volkswirtschaften, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Die "Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion" wurde schon am 1. Juli 1990 Wirklichkeit. In ihren Auswirkungen war sie für viele DDR-Bürger nicht weniger einschneidend als es die Währungsreform des Jahres 1948 für die Westdeutschen gewesen war.
Doch die Zeit für diese Herkulesaufgabe drängte. Immer größer wurde der Strom derer, die der DDR den Rücken kehrten. "Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr." So oder so ähnlich schallte es auf vielen Demonstrationen in der DDR um die Jahreswende. Und viele machten ernst aus dieser Ankündigung: Rund 184 000 Bürger verließen die DDR in den ersten Monaten des Jahres 1990 in Richtung Bundesrepublik.
Die DDR-Wirtschaft so lange unabhängig zu belassen, bis sie sich modernisiert haben würde, wie ursprünglich geplant: Daran war nicht mehr zu denken. Zu deutlich waren inzwischen die Sturmsignale.
Bonn bot an, die Verantwortung für die DDR-Wirtschaft, die Währungsstabilität, Beschäftigung, Renten, das Sozialwesen und die Infrastruktur zu übernehmen. Unter dem neugewählten Ministerpräsidenten Lothar de Maizière gingen die Verhandlungen weiter. Sie nahmen nun konkrete Gestalt an. Am 24. April vereinbarten Kohl und de Maizière in Bonn, dass ein entsprechender Staatsvertrag zum 1. Juli des Jahres in Kraft treten sollte.
Tags zuvor hatte sich die Bundesregierung in der strittigen Frage der Wechselkurse von D-Mark und Ost-Mark auf eine Lösung verständigt. Nun hieß es: Eins zu eins bei Löhnen, Gehältern und Renten sowie bei Bargeld und Guthaben von bis zu 4.000 Ost-Mark pro Kopf.
Bei höheren Beträgen und Schulden von Betrieben sollte ein Kurs von zwei zu eins gelten. Mit de Maizière, der die Obergrenze von 4.000 DM bei Sparguthaben für zu niedrig hielt, einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss: Für Personen im Alter von 15 bis 59 Jahren galt eine Obergrenze von 4.000 DM, bei Kindern von 2.000 DM und bei Älteren von 6.000 DM.
Schon am 18. Mai konnten Theo Waigel und sein ostdeutscher Amtskollege Walter Romberg in Bonn den Staatsvertrag unterzeichnen. Die DDR verpflichtete sich darin, die soziale Marktwirtschaft einzuführen: Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen. Weiter legte sie sich darauf fest, das Arbeitsrecht, die Sozialversicherung und die Sozialhilfe nach westdeutschem Vorbild zu regeln und Haushalt, Finanzen, Steuern, Zölle und Finanzverwaltung an das Recht der Bundesrepublik anzupassen.
Nach erster Lesung am 21. Mai stimmte die DDR-Volkskammer dem Staatsvertrag am 21. Juni mit 302 Ja-Stimmen zu. Damit war die erforderliche verfassungsändernde 2/3 (PDF) ffnet sich in neuem Fenster">Zweidrittelmehrheit erreicht. 82 von den 385 Abgeordneten des ostdeutschen Parlaments votierten gegen den Vertrag, ein Abgeordneter enthielt sich. Damit, betonte Finanzminister Romberg, sei ein entscheidender Schritt auf dem Weg der Einigung der beiden deutschen Staaten getan. "Das Ziel dieses Weges ist ein geeinigtes Deutschland in einer europäischen Friedensordnung."
Der Staatsvertrag war keineswegs unumstritten. Der Berliner Theologe und SPD-Abgeordnete Richard Schröder vergaß in seiner Rede vor der Volkskammer nicht, auf "Umstellungsschwierigkeiten" hinzuweisen, die die Zusammenführung zweifelsohne berge.
"Wir werden uns aber nicht für die Fortschreibung wirtschaftlichen Unfugs einsetzen", stellte Schröder zugleich klar. "Wer unverkäufliche Produkte produziert, handelt verantwortungslos, und zwar auf unser aller Kosten. Ich verstehe nicht, warum noch Trabant produziert werden. Der Bedarf der Museen und Kuriositätensammler ist bereits gedeckt."
Die PDS-Fraktion stieß sich weniger an der Einführung der Marktwirtschaft als vielmehr an dem Wie. "Der Staatsvertrag", kritisierte Dietmar Keller, unter Modrow Minister für Kultur, "ist in gewissem Maße eine Unterwerfung unseres Landes." Dass wesentliche Veränderungen der Staats- und Rechtsordnung lediglich in der DDR, nicht jedoch in der Bundesrepublik vorgenommen werden sollten, beweise, dass es nicht um ein Zusammenwachsen beider deutscher Staaten, sondern um den Anschluss der DDR an Westdeutschland gehe: "Die DDR-Regierung wird zum Juniorpartner der Deutschen Bundesbank."
Auch in Bonn herrschte am 21. Juni keine grundsätzliche Einigkeit. Zwar verabschiedete der Deutsche Bundestag den Vertrag mit einer breiten Mehrheit von 444 Ja-, 60 Nein-Stimmen und einer Enthaltung. Doch lehnten ihn ein Teil der SPD-Fraktion und die Grünen ab.
Für die sozialdemokratische Minderheit erklärte Peter Glotz: "Wir sind für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Aber wir sind zutiefst davon überzeugt, dass die Bundesregierung hierfür den falschen Weg eingeschlagen hat." Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer beklagte für ihre Fraktion, dass westdeutsche Politiker den Bürgern der DDR nie die ganze Wahrheit über den Prozess der Einigung zugemutet hätten: "Sie haben ihnen einen Begriff von Einheit angeboten, der sich ganz und gar auf die D-Mark und den Wohlstand konzentriert."
Doch die Euphorie vieler übertönte die kritischen Stimmen weniger. Der Mauerfall lag nicht einmal acht Monate zurück, da war am 1. Juli 1990 die D-Mark auch offizielles Zahlungsmittel in der DDR. (rad)