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Familienverbänden geht die von der Bundesregierung geplante Anhebung des Kindergeldes und des steuerlichen Kinderfreibetrages nicht weit genug. So sprach der Deutsche Familienverband in einer öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses unter Vorsitz von Ingrid Arndt-Brauer (SPD) am Mittwoch, 20. Mai 2015, von einem „enormen Nachholbedarf“, da Kindergeld und Kinderfreibetrag schon seit 2010 nicht mehr erhöht wurden. Inzwischen sei nicht einmal mehr die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des Kindesexistenzminimums garantiert. Die von der Bundesregierung vorgesehenen Erhöhungen sind nach Ansicht des Familienverbandes „völlig unzureichend“. Ähnlich äußerte sich der Familienbund der Katholiken.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung (18/4649) sieht vor, dass der steuerliche Grundfreibetrag (aktuell 8.354 Euro) rückwirkend zum 1. Januar 2015 um 118 Euro auf 8.472 Euro erhöht werden soll. Ab dem 1. Januar 2016 ist eine weitere Anhebung um 180 Euro auf dann 8.652 Euro vorgesehen. Der steuerliche Kinderfreibetrag beträgt aktuell 7.008 Euro (einschließlich Freibetrag für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung) und soll rückwirkend zum 1. Januar 2015 um 144 Euro auf 7.152 Euro je Kind erhöht werden. Ab 1. Januar 2016 ist eine erneute Anhebung um 96 Euro auf 7.248 Euro vorgesehen.
Das Kindergeld beträgt derzeit monatlich 184 Euro für das erste und zweite Kind, 190 Euro für das dritte Kind und 215 Euro für das vierte Kind und weitere Kinder. Es soll rückwirkend ab 1. Januar 2015 um vier Euro monatlich je Kind erhöht werden. Ab dem 1. Januar 2016 ist eine Erhöhung um weitere zwei Euro monatlich je Kind vorgesehen.
Nach Ansicht des Familienverbandes muss der Kinderfreibetrag auf die Höhe des Grundfreibetrages angehoben werden. Und der Verzicht auf eine rückwirkende Erhöhung des Kinderfreibetrages für 2014 sei „verfassungsrechtlich hoch problematisch“. Diese Ansicht vertrat auch der Familienbund der Katholiken, der sich außerdem für eine Anhebung des Kindergeldes um zehn Euro pro Monat aussprach.
Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge und der Neue Verband der Lohnsteuerhilfevereine hielten eine rückwirkende Erhöhung ab 2014 für „verfassungsrechtlich geboten“. Dr. Johannes Selder, Richter am Bundesfinanzhof, argumentierte dagegen. Seiner Ansicht nach reicht der bisherige Kinderfreibetrag in diesem Jahr aus und sei 2016 geringfügig zu niedrig: „Somit ist es auch verfassungsrechtlich unbedenklich, dass der Kinderfreibetrag nicht bereits für das Jahr 2014 angehoben wurde.“
Mehrere Sachverständige gingen auf die unterschiedliche Wirkung von Kinderfreibetrag und Kindergeld ein. Nach geltendem Recht prüfen die Steuerbehörden in jedem Fall, ob Kindergeld oder Freibetrag günstiger sind und wenden die für den Steuerzahler günstigere Regelung an.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erklärte, der Dualismus von Kindergeld und Kinderfreibetrag sei verfassungsrechtlich nicht zwingend und führe zu einer verteilungspolitischen Schieflage. Denn die Entlastungswirkung der Kinderfreibeträge steige progressiv mit dem Einkommen der Eltern. „Der Familienausgleich sollte so erfolgen, dass jedes Kind dem Staat gleich viel wert ist und nicht bestehende Ungleichheiten noch verstärken“, forderte der DGB, der die vorgesehene Kindergelderhöhung um sechs Euro in zwei Jahren als unzureichend bezeichnete.
Der Deutsche Verein wies darauf hin, dass durch eine gleiche Entlastung 120.000 Kinder aus der Armut geholt werden könnten. Prof. Dr. Joachim Wieland (Universität Speyer) machte die unterschiedliche Wirkung von Kindergeld und Freibetrag an Zahlen deutlich. 2014 wurden beim ersten und zweiten Kind 2.208 Euro Kindergeld pro Kind gezahlt. „Dem steht eine steuerliche Entlastung von 3.327 Euro bei Steuerpflichtigen gegenüber, die den Reichensteuersatz von 45 Prozent sowie den Solidaritätszuschlag zahlen.“ Da jedes Kind Anspruch auf staatliche Förderung in gleicher Höhe habe, sollte die steuerliche Entlastung durch einen Grundfreibetrag erfolgen, schlug Wieland vor. Einen Verzicht auf eine rückwirkende Erhöhung ab 2014 hat für ihn das Merkmal „eindeutiger Verfassungswidrigkeit“.
Auch wenn der Gesetzentwurf dazu keine Regelung enthält, war der Freibetrag für Alleinerziehende ein Thema der Anhörung. Jürgen Brandt, Richter am Bundesfinanzhof und Präsident des Deutschen Finanzgerichtstages, verwies auf den Vorschlag des Bundesrates, den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende um 600 Euro auf 1.908 Euro anzuheben und den Entlastungsbetrag nach der Kinderzahl gestaffelt für jedes weitere Kind um jeweils 240 Euro anzuheben.
Der Vorschlag findet auch in den Koalitionsfraktionen Zustimmung. Die Erhöhung sei geeignet, „dieser Diskussion mit Blick auf die verfassungsrechtlich gebotene Gewährleistung des Existenzminimums in rechtskonformer Weise Rechnung zu tragen“, so Brandt. Die Mehrbelastungen für Alleinerziehende sind nach Ansicht von Prof. Dr. Anne Lenze (Hochschule Darmstadt) nach derzeitiger Datenlage zwar nicht konkret feststellbar, aber mit Sicherheit höher als die Entlastungswirkungen des derzeitigen Betrags und des Bundesratsvorschlages.
Der Neue Verband der Lohnsteuerhilfevereine machte auf Probleme beim Steuertarif aufmerksam. Durch die Erhöhung des Grundfreibetrages komme es zu einem starken Anstieg der Steuer in der ersten Progressionszone. Der extreme Anstieg der Steuer unmittelbar nach dem Grundfreibetrag mache den Einstiegssteuersatz von 14 Prozent „nahezu zur Makulatur“.
Auch für die Bundesteuerberaterkammer ist bereits seit längerer Zeit zu beobachten, dass sich die Belastungen immer mehr in den mittleren Einkommensbereich verschieben würden. Der Gesetzgeber solle dafür sorgen, „dass die höchste Progressionsstufe nicht bereits beim ca. 1,5-fachen eines Facharbeitergehalts beginnt“, empfahl die Steuerberaterkammer.
Auf Fragen von Abgeordneten der CDU/CSU- und SPD-Fraktion nach einer offenbar in der Prüfung befindlichen Rechtsverschiebung des Steuertarifs um 1,5 Prozent erklärte Prof. Dr. Frank Hechtner (Freie Universität Berlin), damit könne die sogenannte kalte Progression wohl vollständig beseitigt werden. „Ist es vornehmliches Ziel, über alle Einkommensbereiche hinweg die Effekte aus der kalten Progression abzubauen, dann erscheint es gerechtfertigt, dass alle Tarifeckwerte verschoben werden“, erklärte Hechtner in seiner Stellungnahme, in der er den Entlastungseffekt der Rechtsverschiebung des Tarifs für einen nicht verheirateten Arbeitnehmer mit einem Monatsbrutto von 3.000 Euro auf 72 Euro im Jahr bezifferte.
Die Rechtsverschiebung des Steuertarifs würde dazu führen, dass der Spitzensteuersatz erst bei einem höheren Einkommen als heute erreicht wird. Hechtner sagte, man könne aber auch die Auffassung vertreten, dass der Spitzensteuersatz von 45 Prozent „bei einer festen Grenze beginnen soll, die nicht durch Tarifanpassungen verschoben wird“.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) reagierte ablehnend auf die Rechtsverschiebung und verwies auf den Progressionsbericht der Bundesregierung, wonach es 2014 gar keine kalte Progression gegeben habe. Es gebe andere Möglichkeiten, die kalte Progression zu reduzieren. Durch eine Abflachung des Tarifverlaufs müsse die Entlastung auf kleinere und mittlere Einkommen konzentriert werden.
Steuerberater und die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft beklagten zusätzliche Verwaltungsaufwendungen für die Arbeitgeber durch die geplante rückwirkende Anhebung des Grundfreibetrages für 2015. Nach Angaben der Wirtschaftsverbände muss die Lohnsteuer für 30 Millionen Arbeitnehmer neu berechnet werden. (hle/20.05.2015)