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Der Bundestag hat am Donnerstag, 3. Juli 2014, in einer Gedenkstunde an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnert. Im Beisein von Bundespräsident Joachim Gauck, des stellvertretenden Bundesratspräsidenten Volker Bouffier, von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle sowie der ehemaligen Staatsoberhäupter Richard von Weizsäcker und Valéry Giscard d'Estaing, zeichnete Gastredner Prof. Dr. Alfred Grosser aus Paris den Wandel in den Beziehungen und auch in der wechselseitigen Wahrnehmung der ehemaligen Kriegsgegner Deutschland und Frankreich nach. Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert sagte, der Sinn des gemeinsamen Gedenkens bleibe die gesamteuropäische Perspektive, der Gewalt ein Ende gesetzt zu haben.
Alfred Grosser ging in seiner Rede auf die durch neuere Buchveröffentlichungen wieder in Gang gekommene Debatte um die Schuldfrage am Ersten Weltkrieg ein. In Frankreich spreche heute niemand mehr von deutscher Alleinschuld. Während jedoch in Frankreich die Erinnerung an die Jahre 1914 bis 1918 intensiv betrieben werde, sei dies in Deutschland viel weniger der Fall.
Die Zahl der Kriegsopfer sei im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung etwa gleich groß gewesen. Im Zweiten Weltkrieg habe Frankreich etwa 600.000 Tote zu beklagen gehabt, Deutschland hingegen sieben Millionen. Die deutschen Städte seien 1918, anders als 1945, unversehrt gewesen.
Am Begriff des „ancien combattant“, des Kriegsteilnehmers oder Frontkämpfers, schilderte Grosser, wie ein französischer Handwerker seiner gerade verwitweten Mutter 1934 Zahlungsaufschub gewährte, weil ihr verstorbener Mann wie er selbst Frontkämpfer gewesen sei, wenn auch auf der anderen Seite. Ebenso habe der „ancien combattant“ Edouard Daladier, Ende der dreißiger Jahre französischer Ministerpräsident, sich nicht vorstellen können, dass ein ehemaliger Schützengrabensoldat, den er in Adolf Hitler sah, einen neuen, mörderischen Krieg entfachen wolle.
Grosser berichtete auch, dass sein Vater den Auswanderungsbeschluss 1933 nicht nach dem Verlust seiner Kinderklinik und nach dem Vorlesungsverbot an der Frankfurter Universität gefasst hatte, sondern nach seiner Ausweisung aus dem Verein der Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse.
Das Treffen des deutschen und französischen Parlaments 2003 in Versailles habe die Überwindung von zwei Kränkungen gezeigt, betonte Grosser: die französische von 1871 und die deutsche von 1919. Nach dem deutsch-französischen Krieg habe Frankreich zahlen müssen, weil es den Krieg verloren habe. Den Deutschen sei 1919 ein Vertrag vorgelegt worden, in dem Reparationen mit Schuld verbunden waren. Frankreich habe in der Weimarer Republik keine junge, helfenswerte Demokratie gesehen, sondern ein mit Misstrauen zu behandelndes Deutschland, „dessen Regierungssystem vorübergehend demokratisch war“.
Der Krieg von 1939 habe nicht dem Willen des deutschen Volkes schlechthin entsprochen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten die Deutschen auf ihrem völlig besetzten Restgebiet einsehen, dass sie den totalen Krieg total verloren hatten. Eine Konsequenz dieser Haltung Roosevelts und Churchills sei gewesen, dass keine Form eines deutschen Widerstands anerkannt worden sei.
Der Unterschied zwischen1918 und 1945 sei, dass die totale Niederlage ein total anderes Deutschland hervorgebracht habe. Das Deutsch-Französische der Nachkriegszeit habe nur gutgehen können, „weil die Bundesrepublik radikal anders war als das Hitler-Deutschland“, sagte Grosser. Einem Russland, in dem schon wieder Stalin verherrlicht werde und das keine lupenreine Demokratie kenne, mangele es an echter Vergangenheitsbewältigung und somit an Bereitschaft zu echtem Dialog.
Grosser nannte die Bundesrepublik einen „Sonderfall in Europa“. Sie sei nicht auf dem Prinzip der Nation aufgebaut worden, sondern auf Grund einer politischen Ethik, die der doppelten Ablehnung von Hitler in der Vergangenheit und von Stalin in der Nachbarschaft. „Das ist bis heute so geblieben. Leider hat das deutsche Beispiel die anderen Staaten und Nationen kaum angesteckt. Der Trend geht heute sogar in die andere Richtung! Ein bisschen auch bei Ihnen.“
Der Erste Weltkrieg sei weitgehend ein nationaler und auch ein deutsch-französischer gewesen, lautet die Einschätzung Grossers. Er erinnerte an die Begegnung von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer in der Kathedrale von Reims und das Hand-in-Hand Helmut Kohls mit François Mitterrand am Ossarium von Douaumont bei Verdun. Gefreut habe er sich auch über die Begegnung von Angela Merkel mit Nicolas Sarkozy am Arc de Triomphe in Paris am 11. November.
Die Entwicklung nach dem Krieg mit der Unterzeichnung des deutsch-französischen Elysée-Vertrags 1963 habe nur geschehen können, weil es nicht mehr „die Deutschen“ gegeben habe, so wie es noch 1918 in den Augen der Siegermächte der Fall gewesen sei. 82 Prozent der Franzosen hätten im vorigen Monat in einer demoskopischen Umfrage auf die Frage nach dem vertrauenswürdigsten Verbündeten Frankreichs „Deutschland“ geantwortet.
Grosser: „Darauf wage ich ein bisschen stolz zu sein. Und die Abgeordneten als „Vertreter des ganzen deutschen Volkes“ dürften stolz auf ein Vaterland sein, „das sich nun, im Gegensatz zu 1914, auf die Werte Einigkeit und Recht und Freiheit beruft“.
Norbert Lammert bezeichnete Alfred Grosser als herausragenden Wegbereiter der deutsch-französischen Freundschaft: „Für das wechselseitige Verständnis beider Nationen haben Sie persönlich viel geleistet.“ 1925 in Frankfurt am Main als Sohn eines Veteranen des Ersten Weltkriegs und Trägers des Eisernen Kreuzes Erster Klasse geboren, habe er das Schicksal anderer deutscher Patrioten jüdischen Glaubens geteilt, die ihrer Heimat dienten und von den Nationalsozialisten aus ihr verstoßen wurden.
Lammert erinnerte daran, dass die Jahre 1914 bis 1918 in der Erinnerung der Deutschen von den späteren Schrecken der nationalsozialistischen Diktatur überlagert seien. Dabei habe der Erste Weltkrieg in fast jede deutschen Familie Spuren hinterlassen. Er zitierte aus dem Gedicht „In Flanders Fields“ des kanadischen Kriegsteilnehmers John McCrae aus dem Jahr 1915, das die Sopranistin Anna Prohaska, am Klavier begleitet von Professor Eric Schneider, in der Gedenkstunde in der Vertonung des US-Komponisten Charles Ives vortrug: „Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch lebten wir, fühlten den Morgen und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang, liebten und wurden geliebt, und nun liegen wir auf Flanderns Feldern.“
Die Krise im Juli 1914 bleibe ein Lehrstück unverantwortlichen Handelns, sagte Lammert. Die Zerstörungen von Städten und Kulturdenkmälern, die militärisch sinnlose, barbarische Beschießung der Kathedrale von Reims oder das Niederbrennen der Universitätsbibliothek im belgischen Löwen seien beschämend und unentschuldbar.
Bei nur zwei Enthaltungen habe der Reichstag am 4. August 1914 für die Kriegskredite gestimmt. Die Abgeordneten hätten gemeinsam zentrale Kompetenzen an die Exekutive für kriegsnotwendige wirtschaftliche Maßnahmen übertragen: „Es war im Wortsinn ein Ermächtigungsgesetz: die verhängnisvolle Entmündigung des Parlaments, die später das Muster zur Selbstabdankung der Weimarer Demokatie abgeben sollte.“
Erst spät, 1917, habe das Parlament, das mit neuen Gremien seine Kontrollaufgaben auch während der häufigen Vertagungen wahrzunehmen versuchte, die politische Initiative zurückgewonnen. In der Friedensresolution vom Juli 1917 habe sich der Reichstag mehrheitlich zum Verständigungsfrieden ohne Annexionen bekannt „und blieb damit erfolglos“. Erst im Herbst 1918 sei die durchgehende Parlamentarisierung des Reiches gelungen.
Die historischen Lektionen zweier Weltkriege würden in Deutschland besonders deutlich durch die Verankerung der Armee im demokratischen Staat. Als erstes Land der Welt habe die Bundesrepublik Kriegsdienstverweigerung als ein Grundrecht in die Verfassung aufgenommen. Seit 20 Jahren debattiere die deutsche Öffentlichkeit kontrovers über jede Beteiligung an einem internationalen Militäreinsatz. Über jeden bewaffneten Auslandseinsatz der Bundeswehr habe das Parlament das letzte Wort, unterstrich der Bundestagspräsident.
Mit den Ereignissen in der Ukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland werde die territoriale Integrität souveräner Staaten in Europa erstmals wieder infrage gestellt. Trotz der Entschlossenheit, völkerrechtswidrige und mutwillige Veränderungen an Europas Grenzen nicht hinzunehmen, wolle niemand deshalb einen Krieg. Das unterscheide die heutige Lage entscheidend von 1914, betonte Lammert weiter.
Die Erinnerungen der Europäer an die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhundertswürden immer dissonant bleiben, sagte Lammert weiter. Sie würden von nationalen Siegen und Niederlagen erzählen, Verantwortung und Schuld zuweisen. „Der wichtigste Sinn unseres gemeinsamen Gedenkens an zwei Weltkriege in einem Jahrhundert aber bleibt die beispielhafte europäische Erfahrung, der Gewalt ein Ende gesetzt zu haben.“
Die Gedenkstunde endete mit der Europahymne. (vom/03.07.2014)