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Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. So fühlt sich Iryna Kovalchuk, seit sie Anfang März ihr Praktikum im Rahmen des Internationalen Parlamentsstipendiums (IPS) im Büro der Unionsabgeordneten Ursula Groden-Kranich aufgenommen hat. Dass die Ukrainerin dabei immer wieder zur Situation in ihrer Heimat befragt wird, stört sie überhaupt nicht. Im Gegenteil: „So kann ich die Situation so darstellen, wie ich sie als richtig empfinde“, sagt sie. Für die 24-Jährige aus Charkiw in der Ostukraine gehört dazu die Feststellung, „dass bei uns nicht alle Menschen prorussisch sind, wie teilweise behauptet wird“.
In Charkiw, der zweitgrößten ukrainischen Stadt mit viel Industrie und vielen Universitäten, lebt die eigentlich aus der Westukraine stammende Iryna Kovalchuk mit ihrer Familie. Die Juristin arbeitet in einer Anwaltskanzlei in der Investmentberatung. Und ist gleichzeitig noch eine der Assistentinnen der Honorarkonsulin der Bundesrepublik Deutschland in Charkiw.
Die 2012 in das Amt berufene Tetyana Gavrysh ist nämlich die Chefin der Kanzlei. „Ich bin an der Durchführung verschiedener Projekte wie etwa der deutschen Kulturwochen in der Ukraine im Herbst eines jeden Jahres beteiligt“, erzählt sie. Im Rahmen ihrer eigentlichen Arbeit versucht sie, Investoren für die Region zu gewinnen.
„Wir wollen den Unternehmern die Angst vor dem Osten nehmen, auch die Angst vor der Korruption innerhalb der staatlichen Institutionen, die es durchaus auch in unserer Region gab“, sagt sie und verweist auf Erfolge ihrer Bemühungen. Die aktuellen Ereignisse hätten die Investitionspotenziale aber deutlich verringert - auf Jahre hinaus, wie Iryna Kovalchuk sagt. „Wir sind da in unseren Bemühungen sehr stark zurückgeworfen worden.“
Krieg in der Ukraine. Die 24-Jährige hatte sich noch vor wenigen Monaten nicht vorstellen können, dass es soweit kommen könnte. „Wir waren immer ein friedliches Land – mehr oder weniger neutral“, sagt sie kopfschüttelnd. Auf der anderen Seite habe die auf Selbstbereicherung ausgerichtete Politik des Ex-Präsidenten Janukowytsch das Land in einen Zustand gebracht, der zu einer Explosion führen musste.
Dadurch wird deutlich: Iryna Kovalchuk steht auf der Seite der Maidan-Aktivisten. Auf der Seite der jungen Menschen, die eine engere Anbindung an die Europäische Union präferieren. „Da geht es nicht um Geld – sondern eher um eine Wertegemeinschaft, in der die Menschenrechte geschützt werden und in der es Meinungsfreiheit gibt. Darum möchten wir eher mit Europa als mit Russland zusammengehen“, erläutert sie.
Dass es auch viele Menschen gibt, die lieber zu Russland gehören wollen, räumt sie durchaus ein. Dies seien eher die Vertreter der älteren Generation, die einen sicheren Platz während der Zeit der Sowjetunion gehabt hatten und sich danach zurücksehnen.
Schließlich könne man nicht leugnen, dass sich die wirtschaftliche Situation nach der Unabhängigkeit der Ukraine für viele eher verschlechtert hat. „Diese Menschen wollen ihre Vergangenheit noch einmal zum Leben erwecken. Aber das geht nicht“, sagt sie.
Aus ihrer Sicht geht auch die Rechnung, dass in Regionen, in denen die Menschen vor allem Russisch sprechen, alle nach Russland streben, nicht auf. „Auch ich spreche mit meinen Kollegen Russisch, wie wohl 90 Prozent der Menschen in Charkiw“, sagt sie.
Ohnehin sei der Drang, zu Russland gehören zu wollen, zurückgegangen. Nur noch etwa 40 Prozent würden sich in ihrer Heimatregion wohl dafür entscheiden, schätzt sie. Ein Grund dafür sei die Situation auf der Krim. Die Menschen dort würden ihre prorussische Entscheidung inzwischen bereuen, sagt Iryna Kovalchuk. Große Preissteigerungen hätten das Leben der Menschen auf der Halbinsel deutlich erschwert, führt sie zur Begründung an.
Über die Lage in ihrer Heimat hat die Ukrainerin in den vergangenen Wochen mit Journalisten gesprochen, aber auch mit Schülergruppen. Vor allem in diesem Rahmen wurde sehr kontrovers diskutiert. Beeindruckend habe sie das gefunden. „Es zeigt, wie gut in Deutschland die Schüler schon politisch gebildet sind“, sagt sie und fügt hinzu: „Politische Bildung in dieser Form gibt es bei uns nicht.“
Vom IPS nimmt Iryna Kovalchuk noch viele andere wichtige Erfahrungen mit nach Hause. „Ich habe hier mit hohen Standards gearbeitet, die ich auch in meinem Leben zu implementieren versuche und auch meinen Kollegen zeigen will“, sagt sie.
Mit ihrem Büro steht sie in ständigem Kontakt. In Charkiw wartet man schon sehnsüchtig auf sie. „Wir wollen uns an mehreren Projekten zur Bildung der bürgerlichen Gesellschaft in der Ukraine beteiligen und die Kollegen denken, dass ich da gut hineinpasse“, freut sie sich.
Ihre Berliner Zeit geht Ende Juli zu Ende. Und mit ihr auch der enge Kontakt zu den anderen Stipendiaten, auch denen aus Russland. Selbstverständlich sei über den Konflikt diskutiert worden, sagt Iryna Kovalchuk. Einige der russischen Stipendiaten hätten dabei versucht, das Handeln ihres Präsidenten Wladimir Putin zu rechtfertigen.
„Das kann ich verstehen“, sagt die Ukrainerin. So wie die Lage in Russland dargestellt werde, könne man leicht einen falschen Eindruck bekommen. Im Übrigen habe natürlich jeder das Recht auf eine eigene Meinung, „so wie ich auch“.
Dem Argument, Putin versuche der Ukraine zu helfen, da das Land es nicht geschafft habe, in der 24-jährigen Selbstständigkeit einen funktionierenden Verwaltungsapparat zu schaffen und das eigene Land zu entwickeln, kann sie dennoch nicht folgen. Gesteht aber zu: „Wir haben es tatsächlich nicht geschafft.“ Durch das Assoziierungsabkommen mit der EU habe die Ukraine aber entscheidende Inputs bekommen, sagt sie.
Trotz aller Meinungsverschiedenheiten: Ein Kontaktverbot mit den russischen Stipendiaten stand für die Ukrainerin niemals zur Debatte. Die Menschen selbst und die Konflikte seien zwei unterschiedliche Sachen. „Wir mögen unterschiedliche Meinungen haben, was den Konflikt angeht. Das bedeutet aber nicht, dass ich keinen Kontakt mit ihnen haben möchte, weil es nämlich ganz tolle Menschen sind“, sagt Iryna Kovalchuk. (hau/23.07.2014)