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Nur wenige Meter und eine Glaswand liegen zwischen dem Besuchereingang am Westportal des Reichstages und dem Eingang in den Plenarsaal. Diese wenigen Meter gehören zur sogenannten „Westlobby“, dem Aufenthaltsbereich vor dem Plenarsaal auf der Westseite. Einige Kuppel-Touristen drücken ihre Nasen an diesem Donnerstagnachmittag an die Glaswand. In der Westlobby wuselt es. In einer Viertelstunde stimmen die Abgeordneten über einen Bundeswehreinsatz ab. Es ist eine sogenannte namentliche Abstimmung, das heißt: mit Stimmkarten, die den Namen der Abgeordneten tragen. Jeder Bürger kann später nachlesen, welcher Abgeordnete wie gestimmt hat.
Neben den Eingängen zum Plenarsaal sind grau lamellierte Wandverkleidungen nach oben gerollt. Dahinter befindet sich für jeden Abgeordneten ein eigenes Fach mit Stimmkarten. Blau für Zustimmung, rot für Ablehnung, weiß für Enthaltung. Ungefähr eine halbe Stunde, bevor die Abstimmung beginnt, hat ein Plenarsekretär im dunkelblauen Frack per Handzeichen das Signal zum Öffnen gegeben. Zugleich werden auf beiden Seiten der zentralen Westlobby Schilder aufgestellt, die den Zutritt nur noch für Abgeordnete erlauben.
Die dicht an dicht liegenden Fächer mit den Stimmkarten sind nach Fraktionen und alphabetisch geordnet. Die meisten Abgeordneten suchen kurz und greifen dann zielsicher in die richtige Richtung.
Wenn im selben Moment ein Fraktionskollege auf die Schulter klopft, passiert es manchmal, dass die Hand doch im Nachbarfach landet. Die Plenarsekretäre schauen aufmerksam zu. „Kontrollieren Sie bitte, ob auch wirklich Ihr Name drauf steht!“ „Gut, dass Sie das sagen, ich hatte jetzt schon öfter die falsche und hab's erst später bemerkt“, bedankt sich eine Abgeordnete.
In diesen Minuten vor der Abstimmung trudeln fast alle der über 600 Parlamentarier ein. Wer etwas auf kurzem Dienstweg mit einem Kollegen, mit einem Minister oder Staatssekretär zu besprechen hat, macht keinen Termin im Büro. Hier in der Westlobby wird man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit gleich irgendwo treffen. Der letzte Redner vor der Abstimmung kämpft gegen den Geräuschpegel, der durch die vielen kleinen Gespräche kontinuierlich ansteigt. Der Präsident mahnt zur Aufmerksamkeit.
Die Bediensteten der Bundestagsverwaltung öffnen jetzt vorsorglich alle Türflügel. Sobald die Abgeordneten abgestimmt haben, strömen die meisten wieder hier heraus. Die berühmten drei „Hammelsprung“-Türen, über denen „JA“, „NEIN“ und „ENTHALTUNG“ geschrieben steht, sind der kürzeste Weg von den Stimmkartenfächern in den Saal. Die besondere Funktion dieser Türen wird heute nicht genutzt.
Den „Hammelsprung“ können Fraktionen bei einfachen Abstimmungen (die normalerweise nur per Handzeichen und durch Aufstehen abgewickelt werden) beantragen, wenn sie Zweifel an den Mehrheitsverhältnissen im Saal hegen. Dann müssen die Abgeordneten den Saal verlassen und ganz altmodisch – erfasst durch Strichlisten – durch diese drei Türen wieder in den Plenarsaal eintreten.
Ein neuer Abgeordneter sucht verzweifelt nach seinem Stimmkarten-Fach. Er hat sich in der Seite geirrt. Die Fächer von CDU/CSU und Grünen liegen jeweils hinter ihren Fraktionsreihen, links der „Hammelsprung“-Türen. Die von SPD und Linken auf der rechten Seite. Wer gerade allzu abgelenkt oder in Gedanken schon beim Folgetermin ist, dem können die Plenarassistenten auf die Sprünge helfen, ohne dabei Partei zu ergreifen: „Ihre Kollegen haben gerade die blaue Karte genommen.“
Im ganzen Gebäude hupt es laut. Neben den Uhren blinken kreisrunde Lichter rot und weiß. Man müsste schon blind und taub zugleich sein, um die Signale nicht wahrzunehmen, die auf die Abstimmung hinweisen. Die Urnen stehen bereit. Der Präsident eröffnet. Schon wenige Minuten später stellt er die obligatorische Frage: „Gibt es ein Mitglied des Hauses, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat?“
Eine in Richtung der Stimmfächer herbeirennende Abgeordnete würde diese Frage gerne mit „Ja“ beantworten, wenn ihr Zeit und Atem dafür blieben. In letzter Sekunde flitzt sie durch die Glastüren hinein und wirft ihr Kärtchen in die nächste Urne.
Erleichterung und Durchatmen. Jede versäumte namentliche Abstimmung wird registriert. Nicht nur der Bürger im Wahlkreis würde sich fragen, warum die Abgeordnete bei der Abstimmung fehlte. Laut Abgeordnetengesetz wäre auch ein Bußgeld von 50 Euro bei unentschuldigtem Fehlen fällig.
Eine Mitarbeiterin des Besucherdienstes führt eine Gruppe von Bürgern zu Glasvitrinen. Ein Faksimile von der Urschrift des Grundgesetzes und von der deutschen Nationalhymne sind hier zu bewundern. Auf der anderen Seite der Lobby lädt ein Miniaturmodell des Reichstages und des Parlamentsviertels zur Erkundung mit den Händen ein.
Die Besucherebene liegt direkt über der Plenarebene offen im Raum. Der Geräuschpegel steigt regelmäßig zur vollen Stunde, wenn die Besuchergruppen von den Tribünen kommen und sich an den Garderoben verteilen.
Auf einem Fernsehgerät läuft das Parlamentsfernsehen. Die kommenden Redner werdn in roter Schrift im Videotext des TV-Geräts angekündigt. Ein Minister, der eben noch ein Gespräch im Abgeordnetenrestaurant direkt hinter der Westlobby geführt hat, begegnet dem fachpolitischen Sprecher seiner Fraktion.
Sie setzen sich kurz auf die schwarzen Ledercouches und tauschen sich mit nachdenklichem Gesichtsausdruck aus. Ein Bediensteter des Ministers eilt herbei und weist auf den nächsten Termin hin. Der Aufenthalt der beiden Abgeordneten in der Westlobby ist – jedenfalls für diesen Moment – beendet. (tk/18.08.2014)