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Im Idealfall sollte das Fachgespräch des Unterausschusses „Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln“, das am Montag, 6. Oktober 2014, unter dem Vorsitz von Dr. Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen) stattfand, helfen, den eigenen Titel im positiven Sinne ad absurdum zu führen. „Gewaltbereite Heimkehrer – wie können wir präventiv deren Zug in den Krieg verhindern?“, so das Thema des Gesprächs, das sich mit den derzeit besonders im Fokus stehenden Rekrutierungspraktiken der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) beschäftigte. Es wurden vor allem (Er-)Klärungsansätze für die Fragen gesucht, wie man Gewaltbereitschaft bei potenziellen Dschihadisten verhindert und wie man sie nicht zu Heimkehrern werden lässt, indem man sie erst gar nicht in den Krieg ziehen lässt.
Die Sitzung wird am Dienstag, 7. Oktober, ab 17 Uhr zeitversetzt im Parlamentsfernsehen, im Internet auf www.bundestag.de und auf mobilen Endgeräten übertragen.
Dr. Emily Haber, Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern und Vertreterin der Bundesregierung, stellte zunächst den nötigen Datenhintergrund dar: Es seien bislang rund 450 deutsche Staatsbürger in die Krisenregion Syrien und Irak gereist, wovon etwa ein Drittel zurückgekehrt sei. 50 Prozent hätten nach ihrer Rückkehr einen extremistischen Hintergrund, so Dr. Haber weiter.
Im Vergleich zum Afghanistan-Krieg nach den Anschlägen vom 11. September 2001, bei dem man vor einer ähnlichen Problematik stand, sei die jetzige Situation in Syrien und im Irak eine andere. Zum einen sei es leichter, über die Türkei in die Krisenregion einzureisen, und zum anderen gebe es nahezu einen Wettstreit unter den extremistischen Organisationen um die ausländischen Kämpfer.
Die radikalste Kraft gelte unter den Unterstützern als die populärste, was dann eben auch auf den Grad der Radikalisierung der zu Rekrutierenden durchschlage. Dies alles erfordere ein sehr komplexes Maßnahmenbündel. So seien Beratungsstäbe zu Radikalisierungsfragen eingerichtet worden, die wiederum Anlaufstellen für Angehörige und Freunde von potenziellen Extremisten koordinieren sollen. Auch „Arbeitsgruppen Deradikalisierung“ seien geschaffen worden, die die Vernetzung der Maßnahmen in Bund und Ländern vorantreiben. Schlussendlich würden auch Organisationen gefördert, die zivil-präventive Projekte betreiben.
Auch das vom Bundesinnenministerium verfügte Betätigungsverbot für die Organisation IS zeige mittlerweile Wirkung. In den sozialen Netzwerken steige die Hemmschwelle, deren Symbole und Inhalte zu verbreiten. Künftig liege ein Schwerpunkt auf dem Erkennen und dem Unterbinden der Reisebewegungen von möglichen IS-Unterstützern. Auch auf europäischer Ebene müsse die Frage geklärt werden, wie Ausreisen auf legale Weise untersagt werden können.
Vor dem Hintergrund, dass pass- oder ausweisentziehende Maßnahmen nicht immer möglich seien, brachte Dr. Haber die Überlegung ins Spiel, Ersatzdokumente für Betroffene auszustellen, die nicht für Reisezwecke bestimmt oder. geeignet sind. In jedem Fall müssten die Maßnahmen schnell, gezielt und flexibel sein, da sich die Situation unheimlich schnell verändern könne.
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Dr. Hans-Georg Maaßen lenkte den Fokus auf die deutsche Salafistenszene, in der oftmals die Radikalisierung stattfinde und zu der das Bundesamt bundesweit etwa 6.200 Personen zählt. Dies sei eine stark wachsende Bewegung – bis zum Jahresende rechne man mit einem Anstieg auf 7.000 Personen – , die vor allem in der virtuellen Welt (Facebook, Twitter) empfängerorientiert Werbung für ihre Sache mache. Zielgruppe seien vor allem junge Menschen unter 30 Jahren, teilweise sogar Minderjährige.
Vielfach geschehe die Radikalisierung im Stillen und zu Hause, was es für den Verfassungsschutz schwer mache, im Vorfeld gegenzusteuern. Hier sei vor allem die Zivilgesellschaft gefragt, bei der Deradikalisierung mitzuhelfen, denn es sei nicht Aufgabe des Verfassungsschutzes, an die Schulen oder in die Familien zu gehen und dort für Aufklärung zu sorgen.
Derzeit gebe es für Deutschland keine konkrete Gefahr für Anschläge von gewaltbereiten Rückkehrern. Jedoch sei die abstrakte Gefährdung nach wie vor akut, die sich insbesondere in der europäischen Vernetzung der Aktivitäten äußere, wie der Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel im Mai 2014 gezeigt habe. Ein Hauptproblem sieht Maaßen in der Rolle der Türkei. Sie sei in dieser Diskussion quasi das Schlüsselland. Der Transit der Dschihadisten über die türkische Grenze müsse gestoppt werden, so Maaßen weiter.
Viel wichtiger als die „Nachsorge“ sei es, sich mit dem Radikalisierungsproblem im Vorfeld zu befassen, befand Esra Kücük, Leiterin der „Junge Islam Konferenz" und Doktorandin der Humboldt-Universität zu Berlin. In Deutschland gebe es rund vier Millionen Muslime, unter denen sich gerade Jugendliche als sehr religiös verstehen. Muslime begegneten vielen Vorbehalten in der deutschen Bevölkerung. So belege Deutschland im europäischen Vergleich Spitzenplätze bei der Ermittlung von Kennzahlen zur Muslimfeindlichkeit, und Integrationsdebatten würden nicht selten am Islam aufgehängt.
Dieser Nährboden werde von Salafisten genutzt, die den jungen Muslimen vorgäben, ihrem Protest gegen Vorverurteilungen eine Stimme zu geben. Hierfür würden vor allem sozialen Netzwerke und Websites genutzt, die für Jugendliche in alltagstauglicher Sprache auf Deutsch gestaltet seien und sie somit in ihrer identitätssuchenden Phase optimal ansprächen.
Die von ihr als wirksam betrachteten Vorfeld-Maßnahmen fasste Esra Kücük in drei Punkten zusammen: Das Internet solle stärker als sozialer Diskursraum genutzt werden, dem in der Bevölkerung vorhandenen Generalverdacht gegen Muslime müsse entschieden entgegengetreten werden und die mediale Präsenz der salafistischen Szene müsse verringert werden. Hierfür lohne es sich auch über einen Verhaltenskodex der Massenmedien im Umgang mit Salafisten nachzudenken.
Für Dr. Götz Nordbruch vom Verein ufuq e.V., einem Verein für Jugendkultur, Medien und politischer Bildung in der Einwanderungsgesellschaft, ist der effektivste Weg, gewaltbereite Heimkehrer nicht zu solchen werden zu lassen, die Vor-Ort-Bindung der potenziell Gefährdeten zu stärken. Je intensiver die Menschen in ihre gesellschaftliche Umgebung eingebunden seien, umso unattraktiver werde für sie der Dschihad.
Es helfe auch ungemein, wenn man Muslimen vermittelt, dass die Scharia auch mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sei und wenn auf muslimfeindliche Taten ein genauso öffentlichkeitswirksames Bekenntnis dagegen erfolge wie über die Tat selbst berichtet werde.
Auch die Kraft symbolischer Gesten sei nicht zu unterschätzen. So habe beispielsweise die Ernennung der Deutsch-Palästinenserin Sawsan Chebli als erste muslimische Sprecherin des Auswärtigen Amtes einen äußerst positiven Eindruck in der muslimischen Gemeinde hinterlassen. Allerdings dürfe es bei Symbolen nicht bleiben.
Claudia Dantschke von der Beratungsstelle Hayat der Gesellschaft Demokratische Kultur widersprach der von Hans-Georg Maaßen geäußerten These, dass die Radikalisierung oft im Stillen und unbemerkt erfolge. Im Nahfeld, wie Dantschke das nähere Umfeld aus Familie und Freunden umschrieb, seien die Veränderungen der ins Radikale abgleitenden Menschen immer spürbar. Das Problem sei häufig, dass das Nahfeld für die Radikalisierung förderlich sei, weil es falsch auf die Anzeichen reagiere. So seien autoritäre Maßnahmen durch Familienmitglieder meist kontraproduktiv.
Die Analyse der Situation mit den Personen aus dem Nahfeld sei deshalb eine wichtige Aufgabe ihrer Beratungsstelle, so Dantschke weiter. Hierfür und in der Folge sei ein professionelles Hilfe- und Helfernetzwerk erforderlich. Auch Imame könnten hier ihren Beitrag leisten, sind aber laut Dantschke nur sekundäre Ansprechpartner. Jugendliche seien nach ihrer Erfahrung nicht in erster Linie auf der Suche nach Religion.
In der anschließenden Fragerunde interessierten sich die Ausschussmitglieder vor allem für das Zusammenspiel von präventiven und repressiven Maßnahmen und für die Erfolgsaussichten von medialen Gegenmaßnahmen zur Präsenz der Extremisten im Internet, insbesondere in den sozialen Netzwerken. So verwies der Abgeordnete Thorsten Frei (CDU/CSU) darauf, dass neben der Präventionsarbeit auch repressive Aspekte wichtig seien, schon um potenzielle Nachahmer abzuschrecken.
Claudia Dantschke zweifelte an einer solchen Wirkung repressiver Maßnahmen. In der entsprechenden Szene würden solche Sanktionen eher als Motivationsschub wirken. Auch Verfassungschutzpräsident Maaßen hält repressive Maßnahmen nicht für ein Allheilmittel. Entscheidend sei die präventive Arbeit, jedoch könne seine Behörde nicht den Sozialarbeiter geben. Hierfür seien andere Institutionen einfach kompetenter.
Zur Frage von Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD), ob eine gezielte Kampagne in den (digitalen) Medien für seriöse Informationen zum Islam sinnvoll seien, um die mediale Präsenz der Extremisten bei den Jugendlichen einzudämmen, äußerten sich die Sachverständigen skeptisch. Dr. Götz Nordbruch betonte, dass ein solches Angebot „von unten“ kommen müsse, um glaubwürdig zu sein. Staatlichen Angeboten würde man in der Zielgruppe äußerst misstrauisch gegenüberstehen.
Schlussendlich wurden auch die von Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen) gestellten und aktuell in den Medien diskutierten Fragen beantwortet, ob es stimme, dass Extremisten versuchen würden, als Flüchtlinge getarnt in den Westen zu gelangen, um dort Anschläge zu verüben, und ob die Ausreise von Extremisten aus Deutschland in die Krisengebiete nicht eher gefördert als verhindert würde.
Dem Verfassungsschutz lägen keine konkreten Erkenntnisse vor, dass als Flüchtlinge getarnte Extremisten Anschläge in Deutschland planen würden, sagte Hans-Georg Maaßen. Für das zuständige Bundesinnenministerium betonte Staatssekretärin Dr. Emily Haber, dass die Ausreise von Personen, die eine Gefährdung darstellen würden oder gegen die bereits strafprozessuale Maßnahmen eingeleitet worden seien, verhindert werde. Von einem „Loswerden“ solcher Personen – und damit des Problems – könne keine Rede sein. (eb/07.10.2014)