Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > Textarchiv
Nach Ansicht von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) ist eine Woche vor dem EU-Gipfel in Brüssel weiter offen, ob sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf gemeinsame und ambitionierte Energie- und Klimaziele bis 2030 einigen werden. „Uns stehen schwierige Verhandlungen bevor“, sagte Merkel am Donnerstag, 16. Oktober 2014, in ihrer Regierungserklärung im Bundestag. Während Deutschland sich noch ehrgeizigere Klimaschutzziele vorstellen könne, gingen die Vorschläge der EU-Kommission anderen EU-Mitgliedern „entschieden zu weit“.
Die Kommission will den Ausstoß von Treibhausgasen im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent verringern, den Anteil erneuerbarer Energien auf mindestens 27 Prozent steigern und den Primärenergieverbrauch um 30 Prozent senken. Eine Einigung gilt als wichtiges Signal für die Verhandlungen über ein globales Klimaschutzabkommen Ende 2015 in Paris.
Deutschland sei bereit, wirtschaftlich schwächere Mitgliedstaaten bei der Erneuerung ihrer Energiesysteme zu entlasten, kündigte die Bundeskanzlerin an. Deutschland dürfe aber auch nicht über Gebühr belastet werden. „Alle Mitgliedstaaten müsse faire Beiträge leisten“, betonte Merkel.
Sie mahnte zudem an, dass alle 28 Mitgliedstaaten der EU die Regeln des gestärkten Stabilitäts- und Wachstumspaktes akzeptieren sollten, da er nur dann seine Funktion voll erfüllen könne. Die europäische Staatschuldenkrise sei „noch nicht dauerhaft und nachhaltig überwunden“, die wirtschaftliche Erholung zaghaft und fragil. Insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa bereite unverändert „große Sorgen“.
Merkel forderte daher, alle verfügbaren Mittel „schnell und effektiv“ einzusetzen. Bisher sei von den sechs Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit nur ein kleiner Teil abgerufen worden. Außerdem müsse mehr privates Kapital mobilisiert werden. „Wachstum und Investitionen können gestärkt werden, ohne den Konsolidierungskurs verlassen zu müssen“, stellte Merkel klar.
Der Fraktionschef der Linken, Dr. Gregor Gysi, warf der Bundesregierung vor, für die schwierige Lage in Europa in hohem Maße mitverantwortlich zu sein. Ihre Politik des „Spardiktats“ habe „erhebliche Folgen“ für die südeuropäischen Länder gehabt. Millionen junger Menschen seien ohne Perspektive, allein in Griechenland und Spanien liege die Jugendarbeitslosigkeit bei mehr als 50 Prozent.
In Griechenland bekämen nur 27 Prozent der Arbeitslosen Arbeitslosengeld, die Säuglingssterblichkeit sei seit Beginn der Krise um 21 Prozent, die Kindersterblichkeit um 43 Prozent und die Selbstmordrate um 37 Prozent gestiegen. „Das ist das Ergebnis Ihrer Politik“, konstatierte Gysi, der sich auf Zahlen des Europäischen Gerichtshofs berief.
Der Linke-Politiker forderte ein Umsteuern in Europa. Unter anderem müsse mehr in Infrastruktur und Bildung investiert werden. „Wir müssen dafür sorgen, dass die europäische Integration wieder attraktiv wird für junge Leute und dass unter dem Begriff Europa endlich wieder mehr Frieden, mehr Demokratie und mehr soziale Wohlfahrt verstanden wird“, mahnte Gysi.
In die gleiche Kerbe schlug die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. „Wir sind dabei, eine Generation in Europa zu verlieren, die wie keine andere vor ihr dieses gemeinsame Europa verkörpert“, warnte sie und forderte die Bundesregierung auf, endlich die „nationalstaatliche Brille“ abzunehmen und europäisch zu denken, egal, ob es um die Konjunktur, Arbeitslosigkeit oder Flüchtlinge gehe. So könnten nach Ansicht von Göring-Eckardt durch den Abbau von Subventionen in Europa wichtige Weichenstellungen finanziert werden, ohne mehr Schulden machen zu müssen.
Die europäische Flüchtlingspolitik bezeichnete die Grünen-Politikerin als eine „Fehlkonstruktion“. So halte die EU an der Politik der Abschottung an den Außengrenzen fest. Sie forderte, die Seenotrettungsoperation „Mare Nostrum“ fortzuführen und Asylsuchende die Möglichkeit zu geben, legal nach Europa zu kommen. Die Bundesregierung forderte Göring-Eckardt auf, sich einem nationalen Flüchtlingsgipfel nicht länger zu verweigern, um die bisher sehr unterschiedlichen Lasten der Bundesländer bei der Aufnahme von Flüchtlingen gerechter verteilen können.
Die Grünen-Fraktion hatte mit Blick auf die Verhandlungen zum Klima- und Energierahmen zudem einen Entschließungsantrag (18/2895) eingebracht, in dem sie die Bundesregierung aufforderte, gegen die Entscheidung der EU-Kommission vom 8. Oktober zur Beihilfe für das geplante britische Atomkraftwerk Hinkley Point C eine Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof einzureichen.
Nach Ansicht der Fraktion setzen die Subventionen „ein falsches Zeichen“ für die europaweite Erreichung selbstgesteckter Klima- und Energieziele. Der Antrag scheiterte bei der namentlichen Abstimmung im Plenum an 475 Nein-Stimmen gegenüber 118 Ja-Stimmen.
Thomas Oppermann, Fraktionschef der SPD, forderte im Bundestag eine „Investitionsagenda“ und begrüßte das vom designierten EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker angekündigte, 300 Milliarden Euro schwere Konjunkturpaket. Dieses müsse nun schnell auf den Weg gebracht werden. Allerdings, mahnte Oppermann, dürfe hierfür nicht Bankenrettungsschirm ESM „geplündert“ werden. „Eine Zweckentfremdung der ESM-Mittel kommt für uns nicht in Betracht.“
Mit Blick auf Deutschland betonte Oppermann, die Kommunen müssten weiter entlastet, die Bürokratie in der Wirtschaft abgebaut und Start-up-Unternehmen mehr gefördert werden. Er warnte aber auch vor einem „schuldenfinanzierten Strohfeuer“ und „Aktionismus“.
Der Sozialdemokrat sprach sich dafür aus, „alles zu tun, damit Flüchtlinge menschenwürdig aufgenommen und untergebracht werden können“. So müssten jene Länder unterstützt werden, die derzeit rund 90 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen: der Libanon, die Türkei und Jordanien. Deutschland müsse das Baugesetzbuch ändern, um den schnellen Bau von Unterkünften zu gewährleisten, die Kommunen im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes weiter entlastet werden.
Die Zeit dränge, warnte Oppermann, Flüchtlinge „irrten auf dem Kontinent umher“, im Winter drohe die größte Flüchtlingskatastrophe seit Ende des Zweiten Weltkrieges. „Es ist kein Ruhmesblatt für Europa, wie es sich in dieser Frage verhält“, urteilte er. Europa müsse in dieser Frage solidarisch zusammenhalten. Die Flüchtlinge müssten in allen Mitgliedstaaten der EU „fair“ verteilt werden.
Wie schon Bundeskanzlerin Merkel sprach sich auch Dr. Hans-Peter Friedrich (CDU/CSU) für mehr private Investitionen in Europa aus, um Arbeitsplätze und Wachstum zu fördern. Als Voraussetzung dafür nannte er jedoch ein investitionsfreundliches Klima. Einer Zweckentfremdung von ESM-Mitteln erteilte er wie Oppermann eine klare Absage. „Hände weg vom ESM!“, warnte Friedrich. Er forderte stattdessen, mögliche Spielräume im EU-Haushalt auszuloten.
Friedrich sprach sich auch dagegen aus, der Europäischen Investitionsbank (EIB) einen höheren Beitrag zu geben. „Erst müssen sinnvolle Projekte gefunden werden, dann kann man überlegen, wie die EIB diese unterstützen kann.“
Als entscheidend für eine Ankurbelung der Konjunktur sieht es Friedrich zudem an, die Basis der mittelständischen Wirtschaft zu stärken. So müsse bei öffentlichen Investitionen immer genau geschaut werden, welche Auswirkungen sie auf den Mittelstand hätten.
Auch der „Akademikerwahn“ müsse ein Ende haben. Es gebe immer mehr arbeitslose Akademiker, aber immer weniger Fachkräfte für die Industrieproduktion, also „Techniker und Praktiker“.
Bundeskanzlerin Merkel nahm in ihrer Erklärung auch Stellung zum Asien-Europa-Gipfel, der am 16. und 17. Oktober in Mailand stattfindet. Merkel will am Rande des Gipfels auch Russlands Präsident Wladimir Putin und den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko treffen.
„Den entscheidenden Beitrag zur Deeskalation muss Russland leisten“, stellte Merkel klar. Sie verlangter von Russland die vollständige Umsetzung der Waffenstillstandsvereinbarung. Trotz der Waffenruhe seien in den vergangenen Wochen rund 300 Menschen in der Ostukraine getötet worden.
Die Kanzlerin verteidigte einmal die von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland, machte aber auch klar, dass diese „kein Selbstzweck“ seien. „Wir suchen unvermindert immer noch den Dialog mit Russland“, versicherte sie. (16.10.14/joh)