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Dass der Dienst an Radargeräten von den 1950er bis zu den 1980er Jahren bei Soldaten sowohl der Bundeswehr als auch der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR zu Krebs führte, ist seit 2003 unbestritten. Damals legte die vom Verteidigungsausschuss des Bundestages eingesetzte Radarkommission ihren Abschlussbericht vor. Seither haben die Betroffenen Anspruch auf Entschädigung. An der Entschädigungspraxis gab es allerdings immer wieder Kritik. Katrin Kunert (Die Linke), Mitglied im Verteidigungsausschuss, will in der Fragestunde des Bundestages am Mittwoch, 3. Dezember 2014, daher von der Bundesregierung wissen, wie deren Überlegungen zur Durchführung eines Audits zum Entschädigungsverfahren aussehen. Was sie sich von einem solchen Audit erwartet und warum sie eine Reform für dringend notwendig hält, erklärt die Abgeordnete im Interview. Die zweistündige Fragestunde wird ab 14.20 Uhr live im Parlamentsfernsehen, im Internet und auf mobilen Endgeräten übertragen. Das Interview im Wortlaut:
Frau Kunert, seit 2003 beschäftigt das Thema Radarstrahlenschädigung den Verteidigungsausschuss des Bundestages; damals hatte er die so genannte Radarkommission beauftragt, entsprechende Vorfälle in Bundeswehr und NVA zu untersuchen. Warum greifen Sie das Thema gerade jetzt wieder auf?
Weil es nach über zehn Jahren überfällig ist, Bilanz zu ziehen, ob die ursprünglichen Ziele und Empfehlungen der Radarkommission in der Praxis verwirklicht wurden. Zudem wurde ich mehrmals von schwerstkranken Radargeschädigten angeschrieben, die mich darauf aufmerksam gemacht haben, dass sie wahrscheinlich eher gestorben sind, bevor ihr Entschädigungsanspruch anerkannt sein wird. Ich finde, das kann so nicht weitergehen. So darf mit todkranken Menschen nicht umgegangen werden.
Was sind Ihre wesentlichen Kritikpunkte am bisherigen Entschädigungsverfahren für die Radarstrahlengeschädigten der Bundeswehr und der NVA?
Die Bearbeitungszeiten sind viel zu lang und das Entschädigungsverfahren setzt zu hohe bürokratische Hürden. Zum Beispiel müssen die Betroffenen selbst beweisen, dass sie überhaupt radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen sind. Das erfordert neben zahlreichen Nachweisen auch Detailwissen in komplizierten technischen und physikalischen Fragen, über das nur die wenigsten Radaropfer verfügen. Es darf auch nicht vergessen werden, dass viele der Betroffenen bereits schwer krank sind und genügend andere Sorgen haben.
Was erwarten Sie sich von dem geplanten Audit zu diesem Entschädigungsverfahren?
Das Audit soll Klarheit bringen, ob das Entschädigungsverfahren seine Aufgabe erfüllt und dem aktuellen Kenntnisstand in der Medizin zu Gesundheitsschäden durch Radarstrahlen noch entspricht. Ich denke, das ist nicht der Fall. Übrigens kritisiert auch der Wehrbeauftragte des Bundestages das gegenwärtige Verfahren deutlich. Es muss dringend Erleichterungen geben, indem die Beweislast zugunsten der Radaropfer umgekehrt wird. Dann müsste nachgewiesen werden, dass die ehemaligen Soldaten keiner radioaktiven Strahlung ausgesetzt gewesen waren.
Bislang wurden grundsätzlich alle bösartigen Tumore mit Ausnahme der chronischen lymphatischen Leukämie sowie Katarakte als Krankheiten angesehen, die für eine Entschädigung qualifizieren. Nun fragen Sie die Bundesregierung, inwiefern sie beabsichtigt, bei einem Audit auch neuere medizinische Erkenntnisse über mögliche weitere Erkrankungen durch ionisierende Strahlung zu berücksichtigen. Was für Erkrankungen sind das?
Es ist keineswegs so, dass bei Krebserkrankungen ein Entschädigungsanspruch problemlos anerkannt wird. Bei bösartigen Krebserkrankungen des Auges spielt es zum Beispiel eine Rolle, ob sie im vorderen oder im hinteren Teil des Auges entstanden sind. Nach meinem Eindruck wird damit nach Wegen gesucht, um den anspruchsberechtigten Personenkreis möglichst klein zu halten. Dazu gehört auch eine erkennbare Verweigerungshaltung der Bundesregierung, neuere medizinische Erkenntnisse über zusätzliche Krankheitsbilder zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere für bestimmte Schädigungen des menschlichen Erbguts durch Radarstrahlung, die zu körperlichen Missbildungen und chronischen Organschäden führen können.
Im Mai 2012 wurde die so genannte Härtefall-Stiftung eingerichtet, aus deren Mitteln die Betroffenen unbürokratisch entschädigt werden sollen. Hat sie Ihrer Meinung nach dieses Ziel erreicht?
Nein, davon kann keine Rede sein. Es gibt einen enormen Antragsstau bei der Härtefall-Stiftung, weil die Bundesregierung auf Zeit spielt und die Betroffenen mit bürokratischen Auflagen zermürbt. Meine Fraktion hatte deshalb in den gerade abgeschlossenen Haushaltsberatungen einen Antrag eingebracht, die Zahl der Dienstposten und die Kapitalausstattung der Härtefall-Stiftung zu erhöhen. Leider wurde unser Antrag von der Regierungskoalition abgeschmettert.
Sie sagten vorhin, dass es nach gut zehn Jahren Zeit sei, Bilanz zu ziehen, was den Umgang der Politik mit dem Thema Radarstrahlenschädigung betrifft. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Ich halte den bisherigen Umgang mit den Radaropfern für menschenunwürdig. Die Radargeschädigten haben als Soldaten gedient, egal ob bei der Bundeswehr oder der NVA der DDR. Sie haben durch ihren Dienst schwere gesundheitliche Langzeitschäden davon getragen, die oft vorzeitig zum Tod führen. Eine gesetzlich geregelte Entschädigung ist das Mindeste. Es geht dabei um Wertschätzung und politische Verantwortung für staatliches Handeln, aber auch um materielle Hilfen in extrem schwierigen Lebenslagen. Die Radaropfer dürfen von der Politik nicht länger im Stich gelassen werden.
(nal/02.12.2014)