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Aus Sicht Hermann Otts muss der Rohstoffverbrauch um 80 Prozent gesenkt werden: "Das ist die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts", so der Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen im Interview. Ott setzt dabei auch auf den technischen Fortschritt: "Wir stehen erst am Anfang einer gigantischen technischen Revolution." In der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" leitet Ott die Projektgruppe III, die sich mit Fragen der Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch befasst. Das Interview im Wortlaut:
Wie fühlt man sich in der Enquete-Kommission: als Politiker oder als Wissenschaftler? Bisher muten Sitzungen sehr nach universitären Seminaren an.
Ich selbst war als Wissenschaftler am Wuppertal-Institut tätig und bin jetzt Politiker. Die Kommission bietet eine ideale Plattform, beide Welten miteinander zu verknüpfen. Im politischen Tagesgeschäft bleibt meist keine Zeit, um in die Tiefe zu gehen. Das ist in diesem Gremium anders, die eine Art Mittelweg markiert: Wir bemühen uns um wissenschaftliche Einsichten, aber natürlich wird auch aus politisch-ideologischen Motiven verhandelt. In meiner Projektgruppe habe ich das Gefühl, dass das Erkenntnisinteresse überwiegt. Ich bin überzeugt, dass die Symbiose zwischen Politik und Wissenschaft gelingen kann und dass das Ergebnis der Enquete eine nachhaltige politische Wirkung entfalten wird.
Die Kommission soll nicht zuletzt die Definition eines qualitativen Wachstums erarbeiten. Was macht den zentralen Kern des qualitativen Wachstums im Unterschied zum traditionellen Wirtschaften aus?
Wir müssen das Wirtschaften vom Ressourcenverbrauch entkoppeln. Weltweit und auch in Deutschland ist es unvermeidlich, nicht nur den Energie, sondern auch den Rohstoffverbrauch um 80 Prozent zu senken. Das ist die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Dieses Problem ist öffentlich noch kaum bewusst, weil bei vielen Rohstoffen noch keine Knappheit zu spüren ist, erst bei Öl, Gas und Seltenen Erden macht sich das etwas bemerkbar. Aber die große Knappheit wird kommen. Wenn alle auf der Welt so wirtschaften würden wie wir, dann bräuchten wir vier Erden.
Lässt sich durch technischen Fortschritt der Ressourcenverbrauch spürbar senken? Beim Recycling wurden schon beachtliche Erfolge erzielt.
Wir stehen erst am Anfang einer gigantischen technischen Revolution. Die Möglichkeiten der Photovoltaik etwa sind noch lange nicht ausgeschöpft. Gleiches gilt für Recycling. Heute werden Abfallstoffe gesammelt, um sie wieder zum Rohstoff zu machen. Das ist jedoch eine riesige Verschwendung, schließlich kann man Reststoffe auch zum Ausgangsmaterial für neue Produktionsprozesse machen. So wie in der Natur, da gibt es auch keine Abfälle. Ein enormes Potenzial bietet die Energieeffizienz, allerdings mit einem großen Problem, dem sogenannten "Rebound": Bessere Motortechniken reduzieren den Benzinkonsum von Autos, der sich dann aber wieder erhöht durch diverse Extras wie Klimaanlagen, mehr PS oder mehr Komfort, weshalb der Durchschnittsverbrauch aller Autos seit Jahrzehnten bei etwa neun Litern liegt. Wenn Hausbesitzer die durch Wärmedämmung eingesparten Gelder nutzen, um mit dem Flugzeug auf Reisen zu gehen, dann wird der ökologische Effekt der Energieeinsparung neutralisiert.
Wird das Problem knapper Ressourcen nicht schlicht durch den Markt geregelt, nämlich über höhere Preise wegen steigender Nachfrage bei sinkendem Angebot?
Theoretisch ja, aber eben nur theoretisch. Der Markt reagiert zu spät, und wenn, dann zu abrupt, dann droht ein wirtschaftlicher Absturz. Man darf bei diesem Thema nicht alles dem Markt überlassen. Wir brauchen staatliche Regeln, um den Verbrauch von Ressourcen unter ökologischen wie ökonomischen Aspekten zu steuern. So wie bei der Lebens-und Arzneimittelsicherheit, die wir ja auch nicht dem Markt überlassen. Das ist zudem eine Frage globaler Gerechtigkeit und der Friedenssicherung. Beim Kampf um den Zugriff auf Rohstoffe drohen auch militärische Konflikte. Wenn im Süden Milliarden Menschen von der Rohstoffnutzung ausgeschlossen sind, werden wir im Norden nicht friedlich leben können.
Was halten Sie von Forderungen, im Sinne globaler Gerechtigkeit das Wachstum des reichen Nordens zu begrenzen, dem armen Süden hingegen weiterhin wirtschaftliche Zuwächse zu erlauben?
Das unterstütze ich mit Nachdruck. Allerdings geht es nicht um ein abstraktes "Wachstum", der Norden muss vielmehr seinen Ressourcenverbrauch reduzieren, um den Süden mit seinem ökonomischen Nachholbedarf mehr Spielräume zu eröffnen. Der Kuchen muss weltweit gerecht verteilt werden.
Plädieren Sie dafür, den Bürgern auch eine unpopuläre Askese aufzuerlegen? Etwa durch eine Beschränkung der Mobilität oder durch eine Untersagung reizvoller nächtlicher Illuminationserlebnisse in Städten?
Nein, Askese muss nicht sein. Aber wir sollten auch keine Völlerei unterstützen, um in diesem Bild zu bleiben. Es geht um das rechte Maß, das politisch definiert werden muss. Ressourcenschonung kann im Übrigen auch ohne Verzicht funktionieren, energetische Passivhäuser etwa haben den gleichen oder höheren Wohnkomfort bei null Energieverbrauch. In hundert Jahren wird man mit Verwunderung auf unsere Diskussionen blicken. Die Menschen werden besser leben, wenn wir die Grenzen unseres Planeten respektieren.
(kos)