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Berlin: (hib/AHE) Wenige Tage vor der afghanischen Präsidentschaftswahl haben Experten am Mittwoch in einer Anhörung des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag eine gemischte Zwischenbilanz nach zwölf Jahren der Präsenz internationaler Truppen am Hindukusch gezogen: Von einem „verlorenen Krieg“ bis zur einer „positiven Bilanz der Entwicklung“ zumindest einiger Landesteile reichten die Einschätzungen der Gäste, die ihren Blick nicht nur auf Fehleinschätzungen, etwaige Misserfolge und mögliche Erfolge des ISAF-Einsatzes seit 2001 richteten, sondern auch auf die Perspektiven des Landes nach dem geplanten Truppenabzug bis Ende 2014.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), bezeichnete zum Auftakt der Anhörung 2014 als „Schlüsseljahr“ für Afghanistan: Das Land sei zwar „stabiler, aber nicht stabil“ geworden und bedürfe auch weiterhin der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Ein Erfolg des Afghanistan-Einsatzes sei deshalb nicht heute messbar, sondern werde erst auf Jahre hinaus daran zu messen sein, ob eine Stabilisierung des Landes mit der „Befähigung zur Eigenverantwortung“ gelinge.
Der Sachverständige Otto Jäckel nannte die Übernahme der Sicherheitsverantwortung durch afghanische Kräfte - und damit perspektivisch eine Rückkehr zu staatlicher Souveränität einen „prinzipiell richtigen Weg“. Allerdings seien die Erfolgsaussichten fraglich: Das von der internationalen Gemeinschaft etablierte Regierungssystem leide unter „schweren, strukturellen Mängeln“. Das bisherige „Regime“ unter Präsident Hamid Karzai stehe für Inneffektivität, „Überzentralisierung“ und Korruption, es lähme die „subnationale Ebene“ und marginalisiere das Parlament. Vor allem aber werde es - genauso wie die aussichtsreichsten Kandidaten als Nachfolger Karzais - als „einseitige Interessenwahrnehmung der ehemaligen Nordallianz“ wahrgenommen, was einem Versöhnungsprozess in Afghanistan im Wege stehe. Die internationale Staatengemeinschaft habe von Anfang an den Fehler gemacht, auf Warlords mit ihren Truppen zu setzen, statt diese zu entwaffnen und eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Zu einem Versöhnungsprozess gehöre zudem, Gesprächsangebote auch der Taliban wahrzunehmen und diese einzubinden, sagte Jäckel.
Jan Köhler vom Sonderforschungsbereich „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin warnte indes davor, „die Chance auf die Entwicklung einer legitimen Ordnung nach Wahl schon jetzt abzuschreiben“. Es sei - unterschiedlich ausgeprägt in den Regionen - manches erreicht worden bei staatlichen Basisleistungen wie Grundbildung, Gesundheit, Zugang zu Trinkwasser und Energie. Dort wo der Staat auf lokaler Ebene mit solchen Angeboten besser funktioniere als andere Kräfte, könne er auch von einer „Legitimationsdividende“ profitieren. Entscheidend sei, ob das bisher Erreichte auch nach Abzug der internationalen Truppen bewahrt werden könne.
„Mehr Realismus statt Zweckoptimismus“ fordert Thomas Ruttig vom „Afghanistan Analysts Network“ in Kabul. Große Teile der afghanischen Bevölkerung hätten sich von einer Mission abgewendet, die sie anfangs noch unterstützt hätten. Wichtige politische Weichenstellungen hätten seit 2001 in die falsche Richtung gewiesen, darunter etwa der Verzicht auf die Wehrpflicht als Instrument des „Nation-building“ oder die Einführung eines Präsidialsystems mit seiner starken Machtzentrierung. Zwar blieben nach mehr als zwölf Jahren ISAF „Freiheitserfahrungen“ und „Bildungsfortschritte“, aber die Grundbildung bleibe in der Breite nach wie vor unzureichend, gute Bildungsangebote seien hingegen teuer und nur für einen kleinen Teil der Afghanen überhaupt erreichbar. Auch Fortschritte beim Aufbau der Wirtschaft blieben fraglich, solange diese nicht beim Großteil der Bevölkerung ankommen würden. Afghanistan sei immer noch eines der ärmsten Länder: Rund ein Drittel der Bevölkerung lebe in Armut, etwa die Hälfte der Kinder seien unter- und mangelernährt, argumentierte Ruttig.
Mehr Realismus forderte auch der Publizist und langjährige Auslandskorrespondent Peter Scholl-Latour. Bei den anstehenden Wahlen würde weiterhin vor allem nach Clan-Zugehörigkeit abgestimmt: „Wir können die Leute nicht in unsere Schablonen pressen“, sagte Scholl-Latour. Zu einer Bestandsaufnahmen gehöre zudem das Eingeständnis, dass der Krieg in Afghanistan verloren und das Konzept des „Nation-building“ gescheitert sei. Scholl-Latour lenkte zudem den Blick auf Russland, das in der Betrachtung Afghanistans zu kurz komme. Ein zerfallendes oder im Bürgerkrieg versinkendes Afghanistan würde das gesamte Gefüge im postsowjetischen asiatischen Raum ins Wanken bringen: „Russland ist der eigentlich Bedrohte.“
Den pessimistischen Einschätzungen setzte Adrienne Woltersdorf von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul eine Reihe von aus ihrer Sicht positiven Entwicklungen entgegen. Trotz gegenteiliger Unkenrufe wählen die Afghanen am Wochenende eine neuen Präsidenten, und die Tatsache, dass einige der Kandidaten durchaus fragwürdig seien, werde auch in der afghanischen Zivilgesellschaft lautstark kritisiert. „Das ist ein Erfolg.“ Woltersdorf sprach zudem von einer „neuen Art der Kompromisskultur“. Es gehe es nicht mehr nur um das Prinzip „eine Ethnie gegen die andere“, die Kandidaten hätten sich mit ihren Vizekandidaten über die ethnischen Grenzen hinweg aufgestellt. Woltersdorf forderte zudem insbesondere mehr Engagement für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes: 65 Prozent der Bevölkerung seien unter 25 Jahre alt - und wenn diese keine Perspektiven sähen, nützen Fortschritte bei Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit wenig.
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