Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > 2011
Die Feier des 60. Geburtstages der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft im Paul-Löbe-Haus des Bundestages in Berlin am Dienstag, 18. Oktober 2011, war eine Mischung aus staatlichem Festakt und Familienfest. Für diese Stimmung sorgten die vier Redner und das aus aktiven und ehemaligen Parlamentariern gut gemischte Publikum sowie nicht zuletzt die Big Band der Bundeswehr unter Leitung von Christoph Lieder. Den nannte der Präsident der Parlamentarischen Gesellschaft, Prof. Dr. Heinz Riesenhuber, aus Versehen Christian und bezog diese Fehlleistung geistesgegenwärtig auf den Bundespräsidenten Wulff.
Es war eine musikalische Zeitreise mit historischem Hintersinn, beginnend mit einer Interpretation der Eurovisionsmelodie und endend mit der von den Gästen stimmungsvoll gesungenen Nationalhymne „Einigkeit und Recht und Freiheit".
Zu diesem emotionalen Höhepunkt hatte der polnische Präsident des Europaparlamentes Jerzy Buzek in einer auf deutsch gehaltenen Rede hingeführt: „Wir brauchen mehr Mut, mehr Europa, mehr Solidarität." Buzek appellierte an „den deutschen Glauben an den Erfolg des gemeinsamen Projektes. Ohne diese „Tatkraft und Energie können wir nichts erreichen".
Heinz Riesenhuber würdigte die Bonner Gründungsgeschichte und die Kontinuität dieses in der Welt einmaligen interfraktionellen Clubs in Berlin. Das Klima des Vertrauens und der Vertraulichkeit sei unter schwierigeren Bedingungen erhalten und gepflegt worden.
Er bedauerte den Abriss der Villa Dahm, ihres Sitzes in Bonn, trotz der Proteste der Parlamentarischen Gesellschaft und der Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Bundestages. Riesenhuber begrüßte, dass in Straßburg eine vergleichbare Vereinigung in der Europäischen Parlamentarischen Gesellschaft heranwachse.
Bundespräsident Christian Wulff verband die Würdigung der Parlamentarischen Gesellschaft mit kritischen Anmerkungen zum gegenwärtigen politischen Betrieb und Krisenerscheinungen im Parlamentarismus: „Unser Repräsentativsystem bedarf immer wieder der Revitalisierung."
Er nannte drei Beispiele: Politikerverdrossenheit ergebe sich, wenn sich Abgeordnete bei Fragen nach dem Eurorettungsschirm im Fernsehen ausdrücklich als nicht informiert zeigten. Entscheidungen würden binnen kürzester Frist durch die Parlamente gebracht.
Die Vorentscheidungen, die in „Fachbruderschaften, Expertengremien, supernationalen Gremien" getroffen worden seien, „müssen solche Bürgerinnen und Bürger ernüchtern, die aktiv mitgestalten wollen". Abermals kritisierte der Bundespräsident den Eindruck, dass „Fraktionsdisziplin den Vorrang vor der freien Entscheidung des gewählten Abgeordneten beansprucht".
In Plebisziten sah der Bundespräsident zwar keinen Ausweg, aber er riet dringend zur größeren Beteiligung der Bürger, vor allem über das Internet mit Twitter und Blog. Die Politiker sollten auf diese Weise am Anfang der Entscheidungsprozesse auf die Bürger zugehen.
Der Bundespräsident stärkte damit - unausgesprochen - die kritischen und selbstkritischen Parlamentarismus-Positionen des Bundestagspräsidenten. Norbert Lammert war in freier Rede abermals in rhetorischer Höchstform. Er ironisierte die Übergangsmelodie der Big Band zu seiner Rede „Saving All My Love For You" als bezeichnend für sein Verhältnis zur Parlamentarischen Gesellschaft.
Einerseits habe die Gesellschaft dem Parlamentspräsidenten zwar ein mögliches Domizil im früheren Reichstagspräsidentenpalais genommen. Anderseits habe sie dafür viel gegeben: Das in der Welt „einmalige Klima" gepflegt, „das unsere Parlamentsarbeit auszeichnet". Er wünsche deshalb dem Club für die nächsten Jahrzehnte, dass er „hellwach, kollegial, kompetitiv und souverän bleibe, wie es sich für Volksvertreter gehört – eine wahrhaft Parlamentarische Gesellschaft".
Helmut Herles