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Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der französischen Nationalversammlung (Assemblée nationale) haben in einer gut zweistündigen gemeinsamen Sitzung am Dienstag, 22. Januar 2013, den Élysée-Vertrag gewürdigt, den Bundeskanzler Konrad Adenauer und der Staatspräsident Charles de Gaulle vor 50 Jahren in Paris unterzeichnet hatten. Der Vertrag setzte einen Schlussstrich unter die "Erbfeindschaft", die in dem Jahrhundert davor zu drei blutigen Kriegen geführt hatte, und begründete das Werk der Aussöhnung zwischen den beiden Nachbarn. Nach zahlreichen Ansprachen beschlossen die beiden Parlamente eine gemeinsame Erklärung (17/12100).
Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert erinnerte an die "wechselseitigen historischen Kränkungen" beider Länder und sagte, ohne die deutsch-französische Aussöhnung hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben.
"Für die Zukunft bleibt die deutsch-französische Verständigung unverzichtbar, weil sie unterschiedliche Interessen, Traditionen und Vorstellungen haben."
Die aktuellen Beziehungen beschrieb Lammert als "Phase der leidenschaftlichen Vernunft", was kein Nachteil sein müsse. Der Élysée-Vertrag biete beinahe grenzenlose Chancen für die Zukunft.
Lammert würdigte ausdrücklich die Erfolgsgeschichte des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW), das nach der Unterzeichnung des Vertrags geschaffen worden war.
Für den französischen Staatspräsidenten François Hollande war die deutsch-französische Freundschaft der Antriebsmotor der letzten 50 Jahre, sie habe immer im Dienst der europäischen Integration gestanden. Sie habe es ermöglicht, mutige Entscheidungen zu treffen, etwa in den gemeinsamen Projekten Airbus und Ariane. Auch sei durch die deutsch-französische Freundschaft die Integrität der Eurozone gewahrt worden.
Auch Hollande würdigte das DFJW, das bislang acht Millionen junge Deutsche und Franzosen unterstützt habe. "Wir wollen die Berufsausbildungssysteme annähern", kündigte der Präsident an. Eine Garantie für Jugendliche, Zugang zu einer Ausbildung und wenn möglich zu einem Arbeitsplatz zu bekommen, sei ein Projekt, für das ein Teil der Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer verwendet werden könnte.
Es sei "unsere Pflicht", alles daranzusetzen, das es für kommende Generationen keine Utopie bleibe, einen Freiheits-, Rechts- Wohlstands- und Solidaritätsraum in Europa zu schaffen. "Diese Freundschaft ist offen, sie muss Europa mitnehmen", forderte Hollande.
Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion müsse in eine Politische Union münden, Frankreich werde "allen zuhören, die weitergehen möchten, unter der Bedingung, dass wir gemeinsam diese Zukunftsprojekte unterstützen". Hollande dankte im Übrigen für die deutsche Unterstützung im Mali-Konflikt.
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) sagte, die EU stehe vor der größten Bewährungsprobe seit ihrem Bestehen. Gemeinsam müsse man daran arbeiten, dass Europa, "unsere gemeinsame Zukunft", sich in einer Welt des 21. Jahrhunderts selbst behaupten kann, mit Blick auf Demokratie, Meinungs- und Religionsfreiheit sowie ein friedliches Zusammenleben. Deutschland und Frankreich arbeiteten aus "unterschiedlichen Traditionen heraus" an einer EU, die geprägt sei von Einigkeit, Brüderlichkeit und von der Würde des einzelnen Menschen.
Merkel schlug vor, dass die Sozialpartner in Deutschland und Frankreich, Arbeitgeber und Gewerkschaften, gemeinsam über einen Weg diskutieren. Auch könnten Deutschland und Frankreich zum Beispiel beim Ausbau erneuerbarer Energien gemeinsame Wege beschreiten, sagte die Kanzlerin. "Wir unterstützen Frankreich in Mali", betonte sie und dankte allen deutschen und französischen Soldaten im Einsatz
Claude Bartolone, der Präsident der Nationalversammlung, erinnerte an die engen Beziehungen zwischen Verbänden, Städten und Unternehmen in beiden Ländern. "Wir sind nicht gekommen, um zu feiern, sondern um uns auf die Zukunft vorzubereiten". Die gemeinsame Erklärung stehe im Zeichen gegenseitigen Vertrauens.
Bartolone sprach sich dafür aus, das europäische Integrationsprojekt voranzubringen. Das deutsch-französische Gespann sei die treibende Kraft Europas. "Auch das Volk in Mali blickt hoffnungsvoll in unsere Richtung." Paris und Berlin seien eine Schicksalsgemeinschaft, um die Wirtschafts- und Währungsunion voranzubringen und eine politische und soziale Union zu schaffen: "Heute erbauen wir Europa."
Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder, unterstrich, Europa dürfe nicht zum "Europa von Euro und Cent" verkommen, Europa sei eine Friedensgemeinschaft.
Kauder bat bei Hollande um Verständnis für das hohe Maß an Beteiligung bei europäischen Entscheidungen, die der Bundestag mit Unterstützung des Bundesverfassungsgerichts erstritten habe: "Das ist keine Bosheit gegen Sie, Herr Staatspräsident, sondern unser System." Der Bundestag habe aber dafür gesorgt, dass die Bundesregierung handlungs- und verhandlungsfähig sei.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Dr. Frank-Walter Steinmeier sagte, Europa sei mehr als ein Deich gegen dunkle Mächte der Vergangenheit. Ein Europa ohne politische Kontrolle und politische Verantwortung wäre ein Irrweg, sagte Steinmeier. Europa sei Hoffnung auf sozialen Aufstieg, Toleranz und Solidarität.
Frankreich habe in Mali mutig gehandelt und sich einem ungehinderten Vormarsch der Islamisten entgegengestellt, betonte der SPD-Politiker weiter. "Wenn Frankreich logistische Unterstützung erwartet, dann sollten wir diese Unterstützung leisten."
"Deutschland steht an Frankreichs Seite", unterstrich auch der FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle. Europa sei stark, wenn es volkswirtschaftlich gesund sei. Brüderle erinnerte an die historisch bedingte Sensibilität der Deutschen, wenn es um Geldwertstabilität geht. "Geldentwertung ist eine soziale Ungerechtigkeit, sie trifft die mit dem Sparbuch, die Kleinen."
Die Devise müsse sein, Europa neu zu gestalten: "Es wird keine Kopie der Vereinigten Staaten sein", betonte der FDP-Politiker unter Hinweis auf die kulturellen Differenzen.
Dr. Gregor Gysi, Vorsitzender der Linksfraktion, stellte die Rolle Frankreichs im Versöhnungsprozess heraus. Deutschland habe die Aussöhnung gewünscht, Frankreich habe aber Vorbehalte überwunden: "Das ist bravourös und muss gewürdigt werden."
Im Übrigen könnten die Franzosen besser protestieren als die Deutschen. Die Deutschen dagegen könnten besser frühstücken. "Wir brauchen ein soziales, ökologisches, friedliches und solidarisches Europa", stellte der Fraktionschef fest.
"Als Rückgrat eines gemeinsamen Europa" bezeichnete der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Jürgen Trittin, die deutsch-französische Freundschaft.
Die Deutschen müssten überprüfen, ob sie durch Sparen aus der Krise herauskommen oder ob man in Beschäftigung, in Bildung und Forschung, in Infrastruktur und atommüllfreie Energieversorgung investieren müsse, um der Inflation vorzubeugen und die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.
Der Vorsitzende der ökologischen Fraktion in der Nationalversammlung, François de Rugy, bestätigte Deutschland, mit dem Atomausstieg die "richtige Wahl" getroffen zu haben. Deutschland sei ein Modell, das man teilweise umsetzen müsse.
Eine "echte EU-Afrika-Strategie" forderte der Vorsitzende der UDI-Fraktion (Union des démocrates et indépendants), Jean-Louis Borloo. Er trat für eine stärkere Integration Europas in der Sozial-, Wirtschafts- Umwelt- und Sicherheitspolitik ein.
Auf die EU-Agrarpolitik nahm Christian Jacob, Vorsitzender der UMP-Fraktion (Union pour un mouvement populaire), Bezug. "Europa darf seine Bauern, seine Landwirtschaft nicht opfern", betonte er.
Die EU müsse die Nahrungsmittelsicherheit für die Verbraucher herstellen. "Wir werden kämpfen, dass das Budget der Gemeinsamen Agrarpolitik auf dem aktuellen Niveau bleiben kann", betonte Jacob.
Der Vorsitzende der sozialistischen SRC-Fraktion (Socialiste, républican et citoyen), Bruno Le Roux, sagte, Solidarität sei eine lohnende Investition und Voraussetzung für den Erhalt des europäischen Sozialmodells. Beide Länder könnten sich für eine Vertiefung der solidarischen Integration der EU stark machen. "Wir bleiben zwei Völker, aber wir können eine Projektgemeinschaft gründen", betonte Le Roux.
Auch André Chassaigne von der linken Fraktion GDR (Gauche démocrate et républicaine) sprach von einer neuen Runde für ein soziales und solidarisches Europa. Joël Giraud, Vorsitzender der Fraktion RRDP (Radical, républicain, démocrate et progressiste) forderte schließlich die Ernennung eines EU-Wirtschaftsministers. Die gemeinsame Sitzung schloss mit den Nationalhymnen. (vom/22.01.2013)