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"Das Parlament sollte die Beantwortung verfassungsrechtlicher Fragen nicht allein dem Bundesverfassungsgericht überlassen, sondern sich eine eigene Meinung bilden und diese auch vertreten", sagt die Rechtswissenschaftlerin Dr. Friederike Lange. Für ihre Dissertation mit dem Titel "Grundrechtsbindung des Gesetzgebers. Eine rechtsvergleichende Studie zu Deutschland, Frankreich und den USA" überreichte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert der Mitarbeiterin von Verfassungsgerichtspräsident Prof. Dr. Andreas Voßkuhle am Mittwoch, 17. April 2013, den Wissenschaftspreis 2012 des Deutschen Bundestages für Arbeiten zum Parlamentarismus.
Ein wesentlicher Teil ihres Buches befasse sich mit der Frage, ob die Politik bei der Interpretation der Verfassung an Verfassungsgerichtsurteile gebunden ist oder eigene Interpretationen vortragen kann, sagte die junge Wissenschaftlerin, deren Doktorvater Prof. Dr. Horst Dreier von der Universität Würzburg der Preisverleihung beiwohnte. "Es gibt Spielräume für eine eigene Meinung des Parlaments", ermutigte Lange die Abgeordneten. Die Bereitschaft, beim Verfassungsgericht eine Ablehnung zu riskieren, sollte im Falle einer Niederlage nicht diskriminiert werden. "Eine lebendige Verfassung bedarf der Mitwirkung einer Vielzahl von Akteuren", betonte Friederike Lange.
Norbert Lammert sagte, er habe Voßkuhle bereits zu seiner preisgekrönten Mitarbeiterin gratuliert. Er bat die Preisträgerin, ihre Einsichten über die Eigenständigkeit des Parlaments in ihrem jetzigen Wirkungsfeld "in wirkungsvoller Weise" zu vermitteln.
Die Juraprofessorin Dr. Ute Sacksofsky aus Frankfurt am Main, Mitglied der Jury des Wissenschaftspreises, machte aus ihrer Begeisterung über Langes "Meisterstück", das materiell eine Habilitationsschrift sei, kein Hehl: "Ich war die ganzen 500 Seiten lang fasziniert." Zwar dürfe der Gesetzgeber verfassungsgerichtliche Entscheidungen nicht ignorieren, er sollte aber auch nicht durch "vorauseilenden Gehorsam" seinen eigenen Handlungsspielraum verkürzen, fasste Sacksofsky die Quintessenz der Arbeit zusammen. Die Dissertation sei "handwerklich auf allerhöchstem Niveau und "gut lesbar".
Der Konflikt zwischen Parlament und Verfassungsgerichtsbarkeit sei bekannt, die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers kein neues Thema, betonte die Laudatorin. Lange eröffne mit ihrer Arbeit aber einen neuen Blick auf überkommene Debatten. Sie beschränke ihre Arbeit nicht auf dogmatische Spitzfindigkeiten, sondern interpretiere das Recht in seinem Kontext und seiner Entwicklung.
Bereits im November vergangenen Jahres hatte sich die siebenköpfige Jury unter Vorsitz des Hamburger Rechtswissenschaftlers Prof. Dr. Ulrich Karpen unter mehr als 30 Bewerbungen auf Friederike Lange als Preisträgerin geeinigt. Nach Auffassung der Jury handelt es sich bei Langes Studie um eine überragende Dissertation zur Frage, wie die Entscheidungshoheit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers mit den Anforderungen an die Effektivität der Grundrechte in Einklang gebracht werden kann.
Je sechs der zwölf seit 1993 verliehenen Wissenschaftspreise des Bundestages gingen laut Professor Karpen an Juristen und Politikwissenschaftler, vier an Historiker. Zunächst wurde der Preis jährlich, seit 1997 wird er alle zwei Jahre vergeben.
Norbert Lammert, der sich bei der Jury bedankte, wies auf das labile und Belastungsproben ausgesetzte Verhältnis von Politik und Wissenschaft hin, das immer wieder kritisch betrachtet werden müsse, und zwar nach beiden Seiten. Er erinnerte an den jüdischen Physiker Prof. Dr. James Franck, der auf den Tag genau vor 80 Jahren, am 17. April 1933, gegen die Entlassung jüdischer Wissenschaftler auf Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums protestiert hatte.
Franck selbst sei durch das sogenannte "Frontkämpferprivileg" im Gesetz vor Entlassung geschützt gewesen, habe aber dennoch gebeten, von seinen Pflichten entbunden zu werden. Seine Hoffnung auf eine "Initialzündung" dadurch sei widerlegt worden, so Lammert: Nicht weniger als 42 Göttinger Wissenschaftler hätten seinen Brief als "Sabotageakt" gewürdigt. Man müsse sich immer wieder "ins Bewusstsein heben", in welch kurzer Zeit die Systemtransformation von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus gelungen sei, sagte der Bundestagspräsident. (vom/17.04.2013)