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Es gibt einen Wandel in der Erinnerungskultur, und "wir brauchen ihn auch", sagt Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke), die Anfang Mai an der Gedenkfeier zur Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen in Oberösterreich teilgenommen hat. In einem am Dienstag, 21. Mai 2013, erschienenen Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" plädiert Pau für neue Zugänge zur Geschichte. "Wir gedenken nicht um des Gedenkens willen, sondern aus Sorge und Fürsorge um die Demokratie", sagt Pau. Die Demokratie müsse täglich aufs Neue verteidigt werden. Sei tritt dafür ein, einen Beauftragten für Demokratie einzusetzen, um gezielt gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus vorzugehen. Das Interview im Wortlaut:
Frau Vizepräsidentin, Sie waren Anfang Mai bei der Gedenkfeier anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen. Was hat Sie dort 68 Jahre noch Kriegsende besonders beeindruckt?
Wir sind zur Zeit in einer Umbruchsituation. Immer weniger Menschen können noch Zeugnis davon ablegen, was in der Zeit des Nationalsozialismus passiert ist und was damals Menschen anderen Menschen angetan haben. Mich hat dort der Auftritt der mehr als 30 Überlebenden stark bewegt. Unter ihnen war auch der Schwiegervater der israelischen Justizministerin Tzipi Livni. Er hat das KZ Mauthausen als Kind überlebt und hat bei seinem Besuch am Ort des Grauens nur eine Frage gestellt: "Wohin hat der Lkw meinen Vater kurz vor der Befreiung gebracht?" Das zeigt noch einmal: Das Leiden ist nicht vorbei, und es muss viel und Unterschiedliches getan werden, damit nachfolgende Generationen aufgeklärt werden und sich das Grauen nicht wiederholen kann.
Wie kann das Gedenken am besten bewahrt werden, wenn die Zeitzeugen einmal nicht mehr unter uns sind?
Ich fand beeindruckend, dass die Zeitzeugen in Mauthausen persönliche Gegenstände oder Dokumente mitgebracht hatten, die sie an die nächste Generation als Erinnerung symbolisch übergeben haben. Ich denke die Konfrontation mit ihren Geschichten, die auch in dieser neu gestalteten Ausstellung bewahrt werden, ist auch für zukünftige Generationen der Dreh- und Angelpunkt. Ich halte es nicht für sinnvoll, Schulklassen an einen Gedenkstein zu zitieren, um zu sagen: Gedenkt der Taten und der Toten. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie wir reagieren, wenn Menschen aufgrund bestimmter Merkmale oder der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausgegrenzt werden. Jedem muss klar gemachten werden, was solch ein Verhalten für jeden Einzelnen im Alltag bedeutet – und daher muss in diesen Fällen rechtzeitig ein "Stoppschild" aufgestellt werden. Ich denke, das ist die Herausforderung, vor der wir in der Bundesrepublik genauso stehen wie in Österreich oder insgesamt in Europa.
Beobachten Sie einen Wandel in der Erinnerungskultur?
Es gibt ihn, und wir brauchen ihn auch. Es geht um die Generationen danach, ohne eigenes Erleben. Und viele haben keine deutschen Wurzeln. Deshalb brauchen wir neue Zugänge zur Geschichte. Wobei es nicht um schlichtes Erinnern geht, sondern vor allem um die Gegenwart und die Zukunft. Menschenrechte und Demokratie müssen immer wieder neu bewahrt werden. Mich hat vor circa zehn Jahren besonders die Frage eines Neuköllner Schülers beeindruckt, dessen Eltern türkische Wurzeln haben. Er stellte vor einem Besuch seiner Schulklasse in Sachsenhausen die Frage: "Was hat das mit mir zu tun?" Das hat mich nochmals zum Nachdenken gebracht, und die Erkenntnis muss sein: Wir gedenken nicht um des Gedenkens willen, sondern aus Sorge und Fürsorge um die Demokratie. Sie wird nicht einmal geschaffen und bleibt dann für ewig, sondern muss täglich aufs Neue verteidigt werden.
Erinnern sich Deutschland und Österreich auf unterschiedliche Art und Weise?
Es war für mich bei der Eröffnung der neuen Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen erstaunlich zu sehen, dass damit auch aktuelle innenpolitische Debatten verbunden waren. Natürlich ist für uns Deutsche die Frage der Verantwortung, das, was im Nationalsozialismus geschehen ist und die Verantwortung für die Zukunft, sehr, sehr präsent – nicht nur wenn wieder einmal etwas passiert ist wie die schlimme Mord- und Raubserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) oder der alltägliche Rechtsextremismus. In Österreich habe ich gelernt, dass man sich dort lange Zeit innenpolitisch vor allem als "erstes Opfer des Nationalsozialismus" gesehen hat. Die eigene Verantwortung wurde oftmals aus der öffentlichen Wahrnehmung und aus dem öffentlichen Gedenken herausgedrängt. Das scheint mit der überarbeiteten Ausstellung in Mauthausen überwunden zu sein. Mein Eindruck war, auch in Gesprächen mit der österreichischen Regierung, dass hier ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Das hat sich auch auf innenpolitische Debatten ausgewirkt: So fand erstmals am 8. Mai auf dem Wiener Heldenplatz kein Aufmarsch von Burschenschaften statt, die dort in den Jahren zuvor an die gefallenen Soldaten erinnert hatten. Stattdessen hat das Bundesheer eine Mahnwache abgehalten und die Wiener Philharmoniker haben ein Konzert gegeben. Das war für mich eine hochinteressante Einsicht.
Fast zeitgleich zu der Gedenkveranstaltung in Mauthausen gab es in Ungarn Demonstrationen, auf denen offen antisemitische Parolen gezeigt wurden. Ist der Antisemitismus in Europa wieder salonfähig?
Mir bereitet schon länger Sorge, dass Antisemitismus in ganz unterschiedlichen Formen auch unter dem Vorzeichen der europäischen Finanzkrise offensichtlich an vielen Stellen und auch in manchen politischen Gruppierungen wieder salonfähig ist. Die Vorgänge in Ungarn dürfen uns nicht kalt lassen. Ich habe kürzlich im Bundestag gesagt, dass die Bundesregierung hier eine Verantwortung gegenüber den ungarischen Partnern in der EU hat. Man darf dort nicht wegschauen, sondern gerade weil man befreundet ist, muss man Freunde auch deutlich kritisieren dürfen.
Wie sollten die EU-Staaten darauf reagieren?
Ich denke, wir sollten schauen, ob Maßnahmen wie die, die es gegen Österreich im Falle der Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahr 2000 gegeben hat, tatsächlich die gewünschte Wirkung hatten oder ob man anders reagieren sollte. Ich vermag das im Moment noch nicht abschließend zu sagen. Ich denke aber, dass wir sowohl im Bundestag als auch im Europäischen Parlament gut beraten wären, auch hier ein deutliches Stoppschild aufzustellen. Als ich vor zwei Jahren in Ungarn war, habe ich von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde gehört, dass nach Jahrzehnten wieder aufblühenden jüdischen Lebens und einem ganz normalen Zusammenleben Menschen dort wieder Angst haben und geschützt werden müssen. Und ich war schockiert, als ich jetzt kürzlich aus der jüdischen Gemeinde Österreichs hörte, dass inzwischen mehrere Hundert ungarische Juden nach Österreich gekommen sind, weil sie Angst um Leib und Leben haben. Das darf die Europäische Union nicht unberührt lassen. Hier muss deutlich reagiert werden.
Ist es geschickter, in diesen Fragen auf eine "Politik hinter den Kulissen" zu setzen oder bedarf es eines größeren öffentlichen Drucks?
Man muss öffentlich sagen, was ist. Ich fand insofern die Rede des österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer in Mauthausen gut und eindrucksvoll. Denn er hat, ohne jemanden persönlich zu verletzen, deutlich seine Besorgnis über die Entwicklungen in Europa und Ungarn zum Ausdruck gebracht und gesagt, dass es unsere gemeinsame Verantwortung ist, dieser Menschenfeindlichkeit etwas entgegenzusetzen.
Sie sind auch Mitglied des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages. Wie sollte der deutsche Rechtsstaat rechter Gewalt entgegentreten?
Es gibt zwei Ebenen. Der Untersuchungsausschuss arbeitet im Moment an seinem Abschlussbericht. Es gibt dabei sehr viele Vorschläge für eine Verbesserung der Sicherheitsarchitektur. Wir wollen verhindern, dass es noch einmal vorkommt, dass bereits vorhandende Informationen nicht ausreichend analysiert werden. Bei der abschließenden Debatte über die Arbeit des Ausschusses im September wollen wir der Öffentlichkeit auch Vorschläge für eine verbesserte Präventionsarchitektur machen. Es geht nicht nur um eine Immunisierung der nachwachsenden Generation, sondern auch um die ständige Weiterbildung von Polizisten, Juristen oder auch Medienleuten. Neben den Bildungsaspekten brauchen wir die Unterstützung von Projekten, die sich im Alltag für Demokratie und gegen jede Form von Ausgrenzung starkmachen. Als Deutscher Bundestag wären wir gut beraten, den im vergangenen Jahr debattierten Antisemitismusbericht nicht zu den Akten zu legen. Wir sollten vielmehr die Verpflichtung einlösen, uns immer wieder mit den Schlussfolgerungen des Berichts zu beschäftigen. Hier brauchen wir eine stärkere parlamentarische Initiative.
Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat vorgeschlagen, in der nächsten Legislaturperiode einen Extremismusbeauftragten einzusetzen. Halten Sie das für sinnvoll?
Das Verrühren aller möglichen, denkbaren Extremismen hat in der Vergangenheit nichts gebracht, und ich kann dem auch in Zukunft nichts abgewinnen. Das gilt für mich auch für die Schaffung von Zentren gegen jedweden Extremismus. Gerade die Untersuchungen im NSU-Komplex zeigen, dass der Fokus der Sicherheitsbehörden nicht auf die spezifischen Zeichen für das Entstehen von Rechtsterrorismus ausgerichtet war. Die Behörden waren daher auch nicht in der Lage, rechtzeitig entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen und ein Frühwarnsystem zu installieren. Es ist aber wichtig, den unterschiedlichen und gefährlichen Phänomenen für die Demokratie adäquate Mittel entgegensetzen. Ich persönlich bin aus diesem Grund dafür, einen Beauftragten für Demokratie einzusetzen, um gezielt gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus vorzugehen.
(as/22.05.2013)