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Es sei die "umstrittenste Gesetzesvorlage seit der Wehrverfassung", schrieb die Wochenzeitung "Die Zeit", nachdem der Bundestag nach vierstündiger Debatte vor 45 Jahren, am 30. Mai 1968, mit dem 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes die Einführung einer Notstandsverfassung gebilligt hatte. Mit dieser Entscheidung setzten die Abgeordneten einen Schlusspunkt hinter zehn Jahre parlamentarischen Streits über die Frage, ob und wie der Staat, um in einer Krisensituation handlungsfähig zu bleiben, auch die bürgerlichen Grundrechte einschränken darf.
Dem Verfassungstext wurde eine Notstandsverfassung beigefügt, um die Handlungsspielräume der Staatsorgane in einer Krisensituation zu erweitern – aber auch um die Grundrechte einzuschränken. Im Fall eines inneren oder äußeren Notstands kann seither ein "Notparlament" als Ersatz für Bundestag und Bundesrat zusammentreten.
Die Bundeswehr darf außerdem zur "Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer" – also auch gegen die eigene Bevölkerung – eingesetzt werden. Darüber hinaus können die Grundrechte jedes Einzelnen bei einem Ausnahmezustand beschnitten werden: Insbesondere das in Artikel 10 des Grundgesetzes garantierte Post- und Fernmeldegeheimnis ist davon betroffen.
Erste Pläne zur Einfügung einer Notstandsverfassung in das Grundgesetz gab es bereits 1958. Doch erst die Große Koalition besaß die für diese Grundgesetzänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag.
Mit den geplanten Notstandsgesetzen hatten CDU/CSU und SPD einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Insbesondere Studenten, Intellektuelle, die Gewerkschaften, aber auch die FDP waren dagegen. Sie fürchteten, dass die Grundgesetzänderung die noch relativ junge deutsche Demokratie gefährden würde und verwiesen auf die Erfahrungen mit Artikel 48 der Weimarer Verfassung, der den Weg zur "Machtergreifung" Hitlers geebnet hatte.
Beim "Sternmarsch auf Bonn" am 11. Mai 1968 demonstrieren so Zehntausende weitgehend friedlich gegen das Gesetzesvorhaben, doch insgesamt war das politische Klima bereits seit Monaten aufgeheizt: Am 11. April 1968 war der Studentenführer Rudi Dutschke auf offener Straße angeschossen worden. Die Auseinandersetzungen der außerparlamentarischen Opposition (APO) mit der Staatsmacht waren daraufhin immer gewaltsamer geworden.
Als die Abgeordneten schließlich am 30. Mai 1968 zur dritten Lesung und namentlichen Abstimmung über die Notstandsgesetze im Parlament zusammenkamen, glich das Bonner Bundestagsgebäude so eher einer Festung. Aus Sorge vor weiteren Demonstrationen waren schon Tage vorher Einheiten der Bereitschaftspolizei mit Absperrgittern und Wasserwerfern bereitgestellt worden.
Doch die erwarteten Proteste vor dem Parlament blieben aus. In zahlreichen anderen Universitätsstädten kam es allerdings zu Blockaden, Besetzungen und Demonstrationen. Und auch im Plenum bahnte sich ein hitziges Wortgefecht zwischen schwarz-roter Regierungskoalition und FDP an.
Die Kritik der Liberalen konzentrierte sich auf den Ausschluss des Rechtsweges beim Abhörgesetz. Insbesondere Hans-Dietrich Genscher wandte sich vehement gegen die geplanten Post- und Telefonkontrollen.
So sollte es keine Möglichkeit für einen zu Unrecht Überwachten geben, gegen solche Maßnahmen gerichtlich vorzugehen. Das aber sei eine "unverzichtbare Garantie für die Beachtung der Grundrechte", so Genscher. Das "Grundrecht zum Schutz der Grundrechte" müsse gewahrt bleiben – im "Interesse des Vertrauens der Bürger in den Staat" sowie im "Interesse einer freiheitlichen verfassungspolitischen Entwicklung".
Zudem bemängelte der Abgeordnete Karl Moersch, das Parlament würde mit den Notstandgesetzen auf einen Teil seiner Rechte verzichten. Das Handeln der Regierung müsse im Krisenfall nachträglich parlamentarisch legitimiert werden, so der FDP-Politiker.
Den Vorwurf, die Notstandsgesetze schränkten die Rechte des Parlaments ein, wies Bundesinnenminister Ernst Benda (CDU) jedoch zurück: Die Rechte blieben in vollem Umfang erhalten und würden sogar noch erweitert.
Auch Bundesaußenminister Willy Brandt (SPD) bekräftigte: "Der Notstandsfall darf eben nicht die Stunde der Exekutive, er muss die Stunde der Bewährung des Parlaments und des mündigen Bürgers sein." Brandt bezeichnete die Notstandgesetze als "erforderliche Vorsorgegesetzgebung", bei der man nur über das "Wie", nicht über das "Ob" streiten könne.
Damit fand er sich auf einer Linie mit Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU), der die Gesetze als "notwendige Ergänzung des Grundgesetzes aus seinem Geist und Sinn" bezeichnete. Wer "mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken", so warnte wiederum Brandt, werde ihn "auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden". Dies sei ganz wörtlich gemeint.
Doch sowohl in der CDU/CDU-Fraktion als auch in der SPD gab es Gegenstimmen. Während einige Unionsabgeordnete die Gesetzesvorlage im Vorfeld der Entscheidung als zu "zu weich" kritisiert hatten, nannte der Sozialdemokrat Hans Matthöfer in der Debatte die darin enthaltenen Grundrechtseinschränkungen "nicht gerechtfertigt".
Er kündigte an, das Gesetz abzulehnen. Damit war er nicht allein: In der anschließenden namentlichen Abstimmung votierten insgesamt 100 stimmberechtigte Parlamentarier (sowie ein Berliner Abgeordneter) gegen die Notstandgesetze.
Da aber 384 stimmberechtigte Abgeordnete (sowie 20 Berliner Parlamentarier) mit "Ja" gestimmt hatten, war die Einführung der Notstandsverfassung damit beschlossen. Es war ein eindeutiges Ergebnis: 53 Stimmen über der erforderlichen Zweidrittelmehrheit.
Die Notstandsgesetze sind seit dem 28. Juni 1968 in Kraft – und damit nun seit fast 45 Jahren gültig. Angewendet werden mussten sie zum Glück jedoch noch nie. (sas/28.05.2013)