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Die Zunahme der sozialen Selektivität bei der Wahlbeteiligung kann in der Zukunft zu einem Legitimitätsproblem der Demokratie führen. Dieses Fazit zog Soziologieprofessorin Dr. Sigrid Roßteutscher in ihrem Vortrag (Video) im W-Forum des Bundestages, einer Vortragsreihe der Wissenschaftlichen Dienste am Donnerstag, 20. Juni 2013. "Wenn die politische Gleichheit im Sinne ‚Ein Wähler, eine Stimme‘ nicht mehr zählt, weil bestimmte Gruppen ihre Stimme nicht mehr abgeben, ist das demokratiegefährdend", sagte Roßteutscher.
Die Professorin am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse der Universität Frankfurt am Main begründete diese Feststellung mit statistischen Zahlen am Beispiel von Städten wie Augsburg, Dresden, Berlin und Köln. Danach ergebe sich eine "soziale und räumliche Bannung" im Hinblick auf die Wahlbeteiligung verglichen mit der Arbeitslosenquote.
"Heute stellen wir eine Schere von bis zu 30 Prozent Unterschied fest", sagte Roßteutscher. Stadtteile mit hoher Erwerbsquote würden bei einer Wahlbeteiligung von bis zu 80 Prozent liegen, während sogenannte Problemviertel mit einem Wert von 50 Prozent und weniger abschneiden. "Das war aber nicht immer so", stellte sie an einem Gegenbeispiel anhand der Stadt Bremen in den 70er Jahren fest.
"Was passiert da", fragte die Professorin und vermutete einen Wandel der "kommunizierten Normen" in den betroffenen Stadtquartieren. Ohne diese Analyse als Anklage verstanden wissen zu wollen, stellte die Professorin fest, dass die Milieubindung der Menschen generell schwinde und damit der Einfluss von Vorbildern. Ist das Wählen heute kein Thema im eigenen privaten Netzwerk, würden die Menschen auch nicht wählen gehen.
Dass sich das Verhalten der Wähler geändert habe, hatte zuvor Prof. Dr. Ulrich Schöler, Leiter der Abteilung "Wissenschaft und Außenbeziehungen" der Bundestagsverwaltung in einleitenden Worten festgestellt. "Der Wähler ist wählerischer geworden", sagte er. Zudem sei er schwerer berechenbar, weniger parteigebunden oder von Weltanschauungen geprägt.
So dramatisch Roßteutschers Einschätzung hinsichtlich der sozialen Selektivität im Wahlverhalten der Bürger ausfiel, warnte sie allerdings auch davor, Niedergangszenarien voreilig auszumalen: "Im Vergleich zu den frühen Jahren der Bundesrepublik haben sich die Kerngruppen der Katholiken und Arbeiterschaft heute um die Hälfte verringert." Gleichzeitig sei die Bedeutung des Wechselwählers gestiegen. "Und die Wechselwähler beleben die politische Landschaft", sagte die Referentin.
Die Parteien würden im Wahlkampf diese Gruppen umwerben und der Erfolg eines Wahlkampfes zeichne sich darin aus, wenn viele Wähler gewonnen wurden. Das gezielte Ansprechen würde wiederum den Trend des Wechselwählens befördern. Das sei nichts schlechtes, nur weil aus Sicht der Parteien sicherlich der Verlust eines Wechselwählers doppelt schlimm ist, wenn dieser seine Stimme einem Konkurrenten gibt, statt nicht wählen zu gehen.
Auch sei die Entscheidung, nicht wählen zu gehen, nicht demokratiegefährdend, wenn eine "Remobilisierung" des potentiellen Wählers im nächsten Wahlkampf möglich ist. "Die Legitimität eines Systems muss nicht an einer bestimmten Größe der Wahlbeteiligung fest gemacht werden", sagte die Wissenschaftlerin.
Problematisch werde es nur, wenn sich die Nichtwähler in ihrer Zusammensetzung von den Wählern unterscheiden und andere Präferenzen entwickeln. Können diese Wähler wieder angesprochen und für eine Wahl gewonnen werden, wäre eine vorübergehende Abwendung nicht problematisch.
Dass die Ansprache gelingen kann und Wahlkämpfe zudem als "Bildungsveranstaltung" die Kompetenz der Wähler über das politische System steigern können, belegte Sigrid Roßteutscher anhand durchgeführter Experimente. So habe eine Untersuchung die Nützlichkeit von politischen TV-Duellen bezeugt. Zuschauer, die von sich behaupteten, ein geringes politisches Interesse zu haben, hätten daraus einen signifikanten Nutzen gezogen und aus den Duellen gelernt.
In einem anderen Punkt kam die Wissenschaftlerin zu einem ebenfalls ermunternden Fazit: "Die Jugend ist insgesamt nicht unpolitischer geworden." Es könne entgegen mancher Behauptung oder Wahrnehmung kein statistisch bedeutender Unterschied über die vergangenen Jahrzehnte festgestellt werden. (eis/20.06.2013)