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Die derzeitigen Entwicklungen in ihrem Heimatland findet Lilija Swjaginzewa besorgniserregend. "Das NGO-Gesetz bedeutet das Ende der Zivilgesellschaft in Russland", sagt die 23-Jährige aus Kaliningrad, dem früheren Königsberg. Seit April dieses Jahres müssten sich in Russland tätige Nichtregierungsorganisationen (NGO), die Unterstützung aus dem Ausland erhalten, bei den Behörden als "ausländische Agenten" registrieren lassen, sagt sie. Ein Schicksal, dass auch Lilija Swjaginzewa drohen könnte. Schließlich absolviert die Germanistin und Journalistin noch bis Ende Juli ein Praktikum im Rahmen des Internationalen Parlaments-Stipendiums (IPS) des Bundestages im Büro des SPD-Bundestagsabgeordneten Franz Thönnes.
Zudem hält sie sich mit ihrer Kritik an den Bedingungen in der Heimat keineswegs zurück. "Ich bemühe mich immer, sozial, politisch und journalistisch engagiert zu sein", sagt sie. Davon zeugt auch ihre Mitgliedschaft im Jugendzentrum für die Redefreiheit.
Doch aller Kritik und allen Unwägbarkeiten zum Trotz will die Kaliningraderin in naher Zukunft in ihre Heimat zurückkehren. Lilija Swjaginzewa hat schließlich einen Plan: "Mein Ziel ist es, einmal Bürgermeisterin von Kaliningrad zu werden", sagt sie. Das IPS sieht sie als wichtigen Beitrag an, um dieses Ziel, "das aber noch weit, weit weg ist", tatsächlich zu erreichen.
Ein nächster Schritt könnte ein weiteres Praktikum in Deutschland sein. "Wenn ich etwas auf der Ebene der Lokalpolitik finde, könnte mir das helfen", ist sie sich sicher. Dahingehende Kontakte knüpfen konnte sie schon während der Wahlkreisreise mit "ihrem" Abgeordneten in den Norden der Bundesrepublik. Etwa als sie die Landrätin Jutta Hartwieg aus dem Kreis Segeberg traf und mit ihr über Lokalpolitik sprechen konnte.
Schließlich liegt Lilija Swjaginzewa ihre Heimatregion sehr am Herzen. "Wir haben eine einzigartige geopolitische Lage", sagt sie. Als russische Exklave grenzt Kaliningrad direkt an Europa. "Moskau ist doppelt so weit weg wie Berlin", erläutert sie. Die Menschen in Kaliningrad hätte inzwischen neben der russischen Mentalität auch eine europäische Mentalität entwickelt. "Umfragen haben ergeben, dass sich mehr als 60 Prozent der Menschen in Kaliningrad als europäische Russen bezeichnen."
Ist es also – weit weg von der Hauptstadt Moskau – vielleicht leichter die Zivilgesellschaft zu entwickeln? Ein bisschen mag die Nähe zu Europa da ein Vorteil sein, sagt sie. Erhebliche Defizite bei der Entwicklung der Demokratie gebe es dennoch. Beispiel Präsidentschaftswahl: "Die Wahlen waren komplett verfälscht", sagt Lilija Swjaginzewa ganz offen.
Als Beleg dient die persönlich gemachte Erfahrung. "Als ich meinen Wahlzettel für die Präsidentschaftswahl in den Händen hielt, war der Kandidat Putin schon angekreuzt." Angesichts all dieser Fehlentwicklungen sieht sie Russland schweren Zeiten entgegengehen. "Ich glaube leider nicht an eine helle Zukunft für mein Land", zeigt sie sich pessimistisch.
Ein stärkeres Engagement Deutschlands oder der EU in Sachen Demokratie und Menschenrechte in Russland ist aber aus ihrer Sicht auch keine Lösung. "Je schärfer der Protest von außen, umso schärfer werden im Inneren die Gesetze gemacht", lautet ihre Erfahrung.
"Auch wenn das alles wenig hoffungsvoll klingt – die 23-Jährige kehrt nicht zuletzt aufgrund des ihr anerzogenen Verantwortungsgefühls wieder zurück. "Ich möchte etwas für meine Stadt tun – weniger für mein Land." Auf diese Trennung, so Lilija Swjaginzewa, lege sie Wert.
Was das IPS im Bundestag angeht, so ist sie des Lobes voll und kommt im Grunde noch immer kaum aus dem Staunen heraus. "Ich darf als Russin die Staatsduma nicht besuchen, kann aber im deutschen Parlament arbeiten", sagt sie kopfschüttelnd. In Russland gebe es zudem eine große Entfernung zwischen den Politikern und dem Volk. "Manchmal denke ich, dass unsere Regierung überhaupt keine Ahnung davon hat, wie das Volk lebt und welche Probleme es hat."
In Deutschland hingegen könne man immer die Nähe spüren, die die Abgeordneten zum Volk haben. Gäbe es ein Stipendienprogramm in der russischen Staatsduma, so würde sie daran sehr gern teilnehmen. "So etwas kann ich mir in meinem Land aber nicht vorstellen." Und manchmal, so räumt sie ein, verstehe sie auch nicht, wieso Deutschland es "115 jungen Leute aus 30 verschiedenen Ländern erlaubt, im deutschen Parlament zu arbeiten".
Dass Lilija Swjaginzewa zu ihnen gehört, verdankt sie auch ihren hervorragenden Deutschkenntnissen. Die Annahme, dass dies mit der Tatsache zu tun hat, dass ihre Heimatstadt lange Zeit zu Ostpreußen gehörte, ist gleichwohl falsch. "Ich bin im usbekischen Taschkent geboren", erzählt sie. Ihr Vater habe noch zu Zeiten der alten Sowjetunion Kaliningrad als "einzigen Ort im ganzen Land, in dem man leben kann", ausgemacht und die Familie dorthin gebracht.
"Für diese Entscheidung bin ich ihm heute noch dankbar", sagt sie. "Ich bin froh, Kaliningraderin zu sein." Eine wahrnehmbare deutsche Minderheit existiere in der Stadt trotz der geschichtlichen Verbindung nicht mehr. Allerdings, so Lilija Swjaginzewa, gebe es durchaus einige Bundestagsabgeordnete, deren Familie aus Königsberg stammt. "Die Mutter von Siegmar Gabriel stammt von dort", sagt sie.
Was die Sprache angeht, so hat die 23-jährige Russin Deutsch in der Schule gelernt und später an der Universität von Kaliningrad studiert. Es folgten viele Aktivitäten – vor allem im journalistischen Bereich – die sie mit Deutschland und der deutschen Sprache verbunden haben. "Hätte ich meine Muttersprache wählen können, hätte ich Deutsch genommen", sagt Lilija Swjaginzewa, und es klingt ein bisschen wie eine Liebeserklärung. (hau/24.07.2013)