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Scharfe Kritik an Fehlern und Missgriffen der Sicherheitsinstanzen bei den erfolglosen Ermittlungen zu der dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) zugerechneten Mordserie übten am Montag, 2. September 2013, die Sprecher aller Fraktionen. Wenige Wochen vor der Wahl appellierten bei der Debatte über den Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses (17/14600) die Redner parteiübergreifend an den nächsten Bundestag, die von den elf Abgeordneten erarbeiteten fast 50 Reformvorschläge konkret umzusetzen, "damit sich ein derartiges Behördenversagen nicht wiederholt", so der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD). Der Diskussion wohnten auch Bundespräsident Joachim Gauck und Angehörige der Opfer bei.
Als "beispiellose Herausforderung für die Demokratie" bezeichnete Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert die Erschießung von neun türkisch- oder griechischstämmigen Kleinunternehmern und einer Polizistin. Der Bundestagspräsident entschuldigte sich im Namen des Parlaments bei den Opfern und ihren Angehörigen für die "haltlosen Verdächtigungen", denen sie bei den Ermittlungen der Polizei ausgesetzt gewesen seien.
Lammert würdigte die Arbeit des Ausschusses, der verlorenes Vertrauen in den Rechtsstaat habe wiederherstellen wollen, als "Beispiel hoher demokratischer Kultur".
Edathy wies auf die fraktionsübergreifende Zusammenarbeit im Ausschuss hin, der vom Bundestag einstimmig eingesetzt worden sei und alle Beschlüsse einstimmig gefasst habe. Das Thema eigne sich nicht für Streit zwischen den Parteien.
Aus Sicht des SPD-Abgeordneten haben drei Gründe dazu geführt, dass Polizei und Geheimdienste den rechtsterroristischen Hintergrund der Hinrichtungsserie nicht erkannt haben: Das Verhältnis der Behörden sei von Konkurrenz und nicht von Kooperation geprägt gewesen, der gewaltbereite Rechtsextremismus sei unterschätzt worden, auch sei nicht ergebnisoffen und vorurteilsfrei, sondern mit Ressentiments ermittelt worden.
Von einer "bedrückenden Niederlage" der Sicherheitsinstanzen sprach Stephan Stracke. Der Vizevorsitzende des Ausschusses betonte jedoch, es habe keine "Kumpanei" zwischen Behörden und dem NSU gegeben, auch keine offene oder augenzwinkernde Unterstützung. Zudem existierten keine Hinweise, dass das Trio zum Kreis der V-Leute gehört habe.
Der CSU-Abgeordnete erklärte, dass mit dem Abwehrzentrum für Rechtsterrorismus, mit der Rechtsterrorismusdatei und ersten Reformen beim Verfassungsschutz erste Schritte im Sinne der vom Ausschuss unterbreiteten Vorschläge getan worden seien.
Clemens Binninger sagte, das Versagen bei den Ermittlungen habe das "Vertrauen in die Sicherheitsbehörden und den Rechtsstaat erschüttert". Es habe sich gezeigt, so der Obmann der Unionsfraktion, dass bei einer solchen Mordserie die föderalen Strukturen an ihre Grenzen stießen. Der CDU-Abgeordnete griff die Forderung des Berichts auf, bei bedeutsamen länderübergreifenden Delikten eine zentrale ermittlungsführende Stelle zu schaffen. Das NSU-Desaster müsse künftig in die Aus- und Fortbildung bei Polizei, Verfassungsschutz und Justiz einfließen.
Binninger kritisierte die bisherige Praxis beim Einsatz von V-Leuten. So sei es nicht akzeptabel, dass der Brandenburger Verfassungsschutz einen wegen versuchten Mordes verurteilten Rechtsextremisten als V-Mann beschäftigt habe. Da sei eine "rote Linie" überschritten worden. Ganz verzichten auf V-Leute könne man aber nicht.
Einen "Anschlag auf die Demokratie" nannte Dr. Eva Högl die Mordserie. Der Ausschuss, der als "Kampfinstrument der Aufklärung" Maßstäbe gesetzt habe, sei bei den Behörden auf ein "flächendeckendes Versagen" gestoßen, das strukturelle Ursachen habe, erklärte die SPD-Obfrau. Eine "profunde Analyse" habe der Verfassungsschutz unterlassen, dessen Reform ein zentrales Anliegen ihrer Fraktion sei.
Högl plädierte für die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle bei der Polizei. Sie zeigte sich "verärgert", dass viele Zeugen es abgelehnt hätten, Fehler einzugestehen und Verantwortung zu übernehmen. Die Abgeordnete rief die Mitglieder des nächsten Bundestages auf, die Reformvorschläge des Berichts nicht in der Schublade verschwinden zu lassen, sondern umzusetzen.
Eine Geheimdienstreform an "Haupt und Gliedern" verlangte Hartfrid Wolff. Aus Sicht des FDP-Obmanns benötigt der Generalbundesanwalt mehr Zuständigkeiten. Der Einsatz von V-Leuten müsse rechtsstaatlich besser verankert werden.
Wolff plädierte überdies dafür, die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste auszuweiten. Der Ausschuss habe zwar viel geleistet, doch seien noch viele Fragen offen. So seien etwa die Geldquellen des NSU noch nicht ausreichend erforscht, allein über die Banküberfälle habe sich das Trio nicht finanzieren können. Auch die internationalen Verbindungen des NSU seien nicht gründlich durchleuchtet worden.
"Wir haben in staatliche Abgründe geblickt", bilanzierte Petra Pau die Arbeit des Ausschusses. Aus Sicht der Obfrau der Linksfraktion stehen die Verfassungsschutzämter im "Zentrum des Versagens". Sie machte sich dafür stark, die V-Leute-Praxis aller Geheimdienste zu beenden und den Verfassungsschutz aufzulösen. Gestärkt werden müsse die Prävention gegen Rechtsextremismus, etwa über die Schaffung einer Bundesstiftung.
Pau kritisierte, die Ermittlungen zur Mordserie hätten "rassistische Züge" getragen. Die Zusammenarbeit im Ausschuss bezeichnete sie als "mutmachende Erfahrung".
Wolfgang Wieland bemängelte, dass die Behörden auf dem rechten Auge "betriebsblind" gewesen seien. Offenbar sei es "Staatsdoktrin" gewesen, dass Rechtsterroristen immer nur Einzeltäter seien und man organisierte Formen ausgeschlossen habe, beklagte der Obmann von Bündnis 90/Die Grünen.
Er konstatierte "Arbeitsverweigerung an höchster Stelle" und forderte, das Bundesamt für Verfassungsschutz aufzulösen und neu aufzubauen. Den Bericht des Ausschusses nannte Wieland ein "Arbeitsprogramm für die nächste Regierung und den nächsten Bundestag". Nach der Debatte wurde der Bericht des Ausschusses einstimmig zur Kenntnis genommen. (kos/02.09.2013)