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Bundestagspräsident Dr. Eugen Gerstenmeier (vorne links)steht hinter dem Architekturmodell des Plenarsaals. © dpa
Nach dem Bundespräsidenten ist er der höchste Repräsentant der deutschen Demokratie: Der Bundestagspräsident – protokollarisch der "zweite Mann im Staate". Mag seine politische Macht auch begrenzt sein, so genießt sein Amt doch höchstes Ansehen. Sein Wort hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die zehn Männer und zwei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Prof. Dr. Eugen Gerstenmaier, dritter Bundestagspräsident vom 16. November 1954 bis zu seinem Rücktritt am 31. Januar 1969.
Er ist mit seiner 14-jährigen Amtszeit der Rekordhalter unter den Bundestagspräsidenten: Eugen Gerstenmaier. Dabei galt das Interesse des CDU-Politikers eigentlich der Außenpolitik und nur auf Wunsch des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer kandidierte er für das Amt des Bundestagspräsidenten.
Doch einmal gewählt, widmete er sich mit Elan und Hartnäckigkeit seiner Aufgabe an der Spitze des Parlaments, dessen Wirkung und Eigenständigkeit er mit inneren Reformen zu stärken suchte. Unter seiner Stabführung wurde so auch das neue Abgeordnetenhochhaus in Bonn gebaut, das in Anspielung auf seine geringe Körpergröße bis heute als "Langer Eugen" bekannt ist.
Eugen Gerstenmaier wird am 25. August 1906 im schwäbischen Kirchheim unter Teck als Ältestes von acht Geschwistern geboren. Die Familie lebt in kleinbürgerlichen Verhältnissen; der Vater arbeitet als Betriebsleiter in einer Klavierfabrik. Gerstenmaier besucht die Realschule und beginnt 1921 eine kaufmännische Ausbildung. Die gewünschte akademische Laufbahn liegt aber jenseits des finanziell Möglichen.
Bis 1929 ist Gerstenmaier als kaufmännischer Angestellter tätig; 1931 kann er das Abitur nachholen und ein Studium beginnen. Gerstenmaier studiert Philosophie, Germanistik und evangelische Theologie in Tübingen, Rostock, Zürich und wieder Rostock. Bereits vier Jahre später, 1935, promoviert er und beginnt anschließend mit seiner Habilitation über "Die Kirche und die Schöpfung".
Eine Lehrbefugnis wird Gerstenmaier allerdings aus politischen Gründen verweigert: Wegen seines Protests im "Kirchenkampf" gegen den Rücktritt Friedrich von Bodelschwinghs zugunsten des von den Nationalsozialisten unterstützten "Reichsbischofs" Ludwig Müller war er bereits 1934 aktenkundig geworden.
1936 findet Gerstenmaier, der sich der Bekennenden Kirche angeschlossen hatte, eine Anstellung als Beauftragter der Württembergischen Evangelischen Kirche und als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Kirchlichen Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche. Gerstenmaiers Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus wandelt sich in diesen Jahren von Distanz über Ablehnung zu organisiertem Widerstand.
Als das Münchner Abkommen 1938 die Abtretung des Sudetengebietes an das Deutsche Reich festlegt, wird Gerstenmaier aktiv: Er tritt der Gruppe um Helmuth von Moltke, dem "Kreisauer Kreis", bei. So ist er auch eingeweiht in die Pläne für ein Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Als es scheitert, wird auch Gerstenmaier im Umkreis des Grafen Stauffenberg verhaftet. Anders als die Verschwörer entgeht er jedoch einer Hinrichtung. Er wird zu einer siebenjährigen Zuchthausstrafe verurteilt und von US-Truppen am 14. April 1945 befreit.
Nach Kriegsende baut Gerstenmaier zunächst das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Deutschlands auf, dessen Leitung er von August 1945 bis 1951 übernimmt. Gerstenmaier wird CDU-Mitglied und 1949 zum ersten Mal in den Bundestag gewählt. Hier gilt sein Einsatz in der ersten Legislaturperiode vor allem der Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen. Zudem engagiert er sich in der Außen- und Europapolitik. 1954 übernimmt er den Vorsitz des Auswärtigen Ausschusses - eine Aufgabe, die Gerstenmaier mit Leidenschaft ausübt.
Doch am 29. Oktober 1954 stirbt überraschend Bundestagspräsident Hermann Ehlers. Gerstenmaier kandidiert. Im dritten Wahlgang wird er gewählt – sozusagen "mit Ach und Krach", wie Gerstenmaier einmal selbst sagte. In seiner langen Amtszeit wird er sich jedoch noch drei Mal zur Wiederwahl stellen und jedes Mal mit großer Mehrheit als Bundestagspräsident bestätigt werden.
"Das Herz des freiheitlichen Rechtsstaats in Deutschland schlägt nicht nur in der Kraft seiner Regierung und in der Integrität seiner Gerichte und Verwaltung, sondern vor allem in der Lebendigkeit und Kraft des Parlaments", sagte Gerstenmaier am 15. Oktober 1957, nachdem er gerade zum zweiten Mal in das Amt gewählt worden war.
In diesen Worten klingt der programmatische Kern seines Wirkens an der Spitze des Parlaments an: Gerstenmaiers Ziel war, dem Parlament die zentrale Stellung zu sichern, die ihm als einzig direkt gewähltem Verfassungsorgan zukommt.
So stritt er für eine innere Reform der Parlamentsarbeit: Viele seiner Vorstellungen - die Verringerung der Abgeordnetenzahl, die Zusammenlegung aller Landtagswahlen in der Mitte einer auf mindestens fünf Jahre verlängerten Legislaturperiode – konnte er zwar nicht umsetzen. Doch stärkte er durch die Einführung der Aktuellen Stunde und die Neuordnung der Fragestunde entscheidend die Informationsrechte des Parlaments.
In zähen Verhandlungen setzte er sich zudem für bessere Arbeitsbedingungen der Abgeordneten ein - erst nach dem Bau des Abgeordnetenhochhauses in Bonn hatte jeder Volksvertreter ein eigenes Büro.
Nach 14 Jahren im Amt beginnt jedoch Gerstenmaiers Stern zu sinken. Er wird Opfer einer Pressekampagne: Die DDR lässt Meldungen in den Medien lancieren, wonach Gerstenmaier ein Spitzel der Nationalsozialisten gewesen sein soll. Anschuldigungen, die sich später als völlig haltlos herausstellen.
Gerstenmaier gerät zudem wegen Wiedergutmachungsleistungen, die er für die Behinderung seiner Lehrtätigkeit durch die Nazis bekommen hat, in die Defensive. Die Höhe der Leistungen für ein nicht ausgeübtes Lehramt führt erneut zu öffentlicher Kritik. Gerstenmaier tritt daraufhin am 31. Januar 1969 von seinem Amt als Bundestagspräsident zurück.
Seine aktive Zeit als Politiker ist damit zwar beendet, doch bleibt Gerstenmaier als einer der geistigen Väter der Bundesrepublik ein geachteter Gesprächspartner. Ende 1985 erleidet er einen Schlaganfall und stirbt am 13. März 1986 im Alter von 79 Jahren. Sein Tod ist Anlass, Leben und politische Arbeit Gerstenmaiers zu würdigen.
Bundespräsident Dr. Richard von Weizäcker betonte, er habe "Geist und Richtung unseres heutigen Staates mitbestimmt". Zu seinem 20. Todestag im August 2006 formulierte es der amtierende Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert so: Eugen Gerstenmaier habe "dem Parlament eine klar umrissene Gestalt und Respekt in der Öffentlichkeit verschafft" und das "Selbstverständnis der Parlamentarier" gefestigt. (sas/22.10.2013)