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„Kommen Sie rein, wollen Sie vielleicht einen Kräutertee?“ Ekin Deligöz – in gemustertem Kleid und grobgestrickter Jacke – legt einen Stift aus der Hand und zeigt auf die Kanne, die vor ihr auf dem Schreibtisch steht. Hier hat die 43-jährige Haushaltspolitikerin von Bündnis 90/Die Grünen bis eben Einzelpläne, in denen das Jahresbudget der Ministerien veranschlagt wird, studiert. Es ist Haushaltswoche im Parlament. In Plenum und Ausschüssen wird diskutiert, gestritten und der Budgetentwurf der Bundesregierung auf Herz und Nieren geprüft. Im November soll der Bundesetat für das kommende Jahr beschlossen werden.
Das bedeutet viel Arbeit für die Haushaltspolitiker – insbesondere für die Mitglieder der kleineren Fraktionen. Deligöz ist allein für fünf Ressorts zuständig. Neben Gesundheit, Bildung und Forschung, Familie und Jugend sowie dem Budget des Bundespräsidenten gehört auch die Prüfung des größten Einzeletats im Bundeshaushalt zu ihren Aufgaben – dem Budget des Arbeits- und Sozialministeriums. Diesen hat sich die Abgeordnete aus Neu-Ulm gerade vorgenommen: Unter welchem Blickwinkel prüft sie solche Etatplanungen?
„Ich habe sozusagen verschiedenen Brillen, die ich beim Lesen trage: Gendergerechtigkeit ist eine davon, die Belange von Kindern eine andere“, erklärt Deligöz. „Im Einzelplan Arbeit und Soziales werde ich zum Beispiel nachhaken, ob von den geplanten Ausgaben für Inklusionsprojekte auch Migranten profitieren.“
Seit 16 Jahren ist die im anatolischen Tokat geborene Deligöz Mitglied des Bundestags. Damals gehörte sie zu der ersten Türkischstämmigen überhaupt in diesem Parlament. Doch obwohl die grüne „Reala“ eine ausgesprochene Befürworterin der Frauenquote ist, als „Quoten-Migrantin“ hat sie sich nie verstanden: „Ich wollte mich nicht aufgrund meiner Zuwanderungsgeschichte auf die Migrationspolitik beschränken lassen“, stellt Deligöz klar.
Die Belange von Zuwanderern hat sie trotzdem stets im Blick. „Mir geht es in erster Linie um Bildungs- und um Chancengerechtigkeit. Sie ist die Grundlage für Migrations- und Integrationspolitik. Gute Kitas, Schulen und Programme zur Armutsbekämpfung brauchen Migrantenkinder am dringendsten – und die kommen schließlich auch Kindern ohne Migrationshintergrund zugute.“
Kindern und Familien gilt seit jeher ihr voller Einsatz – vor allem als Mitglied im Ausschuss für Familie, Frauen, Senioren und Jugend, dessen stellvertretende Vorsitzende sie von 2005 bis 2009 ist. Über zehn Jahre gehört sie auch zur Kinderkommission des Bundestags.
Das 2000 vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung, den 2005 eingeführten Kinderzuschlag für geringverdienende Familien oder die Debatte um Kindesmissbrauch zählt Deligöz im Rückblick zu den großen Erfolgen des Gremiums, das sich als Lobby für die Jüngsten in der Gesellschaft versteht. „Wir haben viel verändert“, sagt sie mit Nachdruck.
Veränderungen bewirken – das ist Deligöz politisches Hauptmotiv. Und es ist auch eine Konsequenz aus ihrer eigenen Geschichte: Als Achtjährige kommt sie 1979 zusammen mit ihrer Mutter, einer alleinerziehenden Lehrerin, aus Istanbul nach Deutschland und wächst im bayerischen Senden auf.
Dort besucht zunächst eine rein türkische Schule. „Wir hatten dort nur drei Stunden Deutsch in der Woche. Aber intensiven islamischen Religionsunterricht – mehr als in der Türkei“, erinnert sich Deligöz. Davon befreit werden kann die Alevitin nicht. Also setzt ihre Mutter alle Hebel in Bewegung, um ihrer Tochter den Wechsel zu einer deutschen Grundschule zu ermöglichen.
„Das war meine Chance“, sagt Deligöz im Rückblick. „Die ersten drei Monate waren zwar unheimlich hart, weil ich kaum Deutsch konnte. Aber Kinder lernen schnell. “
Leicht macht man es ihr nicht. Unvergessen ist bis heute, mit welchen Worten ihr Lehrer am Gymnasium ihr eine Fünf in Deutsch gab: „Ich tue dir damit einen Gefallen, deinen Platz zu finden. Ausländer gehören nicht aufs Gymnasium. Behinderte können ja auch nicht beim 100-Meter-Lauf gewinnen.“
Deligöz lässt sich dennoch nicht entmutigen, macht Abitur und studiert schließlich Verwaltungswissenschaften in Koblenz und Wien. Was ihr dabei geholfen hat? Die Unterstützung der Familie, sagt sie ohne zu zögern. „Schon mein Großvater legte Wert darauf, dass seine Kinder eine Ausbildung absolvieren.“ Doch Deligöz hat erfahren: „Wenn Migrantenkinder Anerkennung wollen, müssen sie das Fünffache leisten, um wahrgenommen zu werden.“ Eine Ungerechtigkeit, die die „nüchterne Pragmatikerin“ – so Politikerin über sich – bis heute wütend macht und antreibt, sich zu engagieren.
Sie geht zu den Grünen, wird 1989 Sprecherin der „Grün Bunt Alternativen Jugend Bayern“, 1998 folgt der Einzug in den Bundestag. „Es gibt ein wunderbares türkisches Sprichwort“, sagt Deligöz und lächelt. „Wenn du in der Wüste bist, musst du entweder lernen ein Kamel zu reiten oder die Wüste schnell wieder verlassen‘. Ich konnte sie nicht verlassen, also habe ich versucht, die Dinge zu verändern.“
Um das zu schaffen, traut Deligöz sich auch etwas: Als sie im Oktober 2006 im Streit um das Kopftuch in der „Bild-Zeitung“ an die muslimischen Frauen appelliert, das Kopftuch als „Symbol der Frauenunterdrückung“ abzulegen und zu zeigen, sie die „gleichen Bürger- und Menschenrechte“ haben „wie die Männer", schlägt ihr eine Welle des Hasses entgegen. Die Politikerin erhält Morddrohungen, wird beleidigt, muss unter Polizeischutz gestellt werden.
Und sie sitzt zwischen allen Stühlen, auch in der eigenen Partei: „Ich habe nicht gedacht, dass ich so viel Gegenwind bekomme.“ Es sei ein „Tiefpunkt“ in ihrer bisherigen politischen Arbeit gewesen, räumt sie offen ein: „Ich habe mich missverstanden und ungerecht behandelt gefühlt. Aber ich würde es wieder tun.“
Die Kraft dazu gibt ihr die Familie: In der „Stunde der größten Verzagtheit“ habe sich ihr Großvater aus der Türkei gemeldet, schreibt Deligöz später in einem Beitrag für den „Spiegel“: „Er sagte, dass sehr stolz auf mich sei und dass man mir anmerke, dass ich die Enkelin meiner Großmutter sei.“ Jener Großmutter, die als eine der wenigen Frauen in der Türkei Mitte der 1970er-Jahre schon in einem Stadtrat saß.
Bis heute ist sie ein Vorbild für die Bundestagsabgeordnete: „Von ihr habe ich gelernt, Dinge zur Sprache zu bringen.“ Aber auch der Zuspruch in Form von Auszeichnungen – wie etwa dem Deutsch-Türkischen Freundschaftspreis, der ihr 2007 verliehen wird – geben ihr Rückenwind: „Dann bekommt man den Mut, weiterhin unbequem zu sein.“ (sas/21.10,2014)