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Er hat eine politische Biografie, die nur die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung schreiben kann: Michael Stübgen, Pfarrer in dem kleinen südbrandenburgischen Ort Großthiemig, tritt im Februar 1990 der CDU bei, und nur zehn Monate später ist er Mitglied des ersten gesamtdeutschen Bundestages. 22 Jahre ist das inzwischen her — und Stübgen ist noch immer in der Politik: 15 Jahre war er als Abgeordneter für seinen Wahlkreis Elbe-Elster/Oberspreewald-Lausitz Mitglied im Innenausschuss und begleitete das Zusammenwachsen von Ost und West. Inzwischen hat der 52-Jährige als europapolitischer Sprecher der Union insbesondere den europäischen Integrationsprozess im Blick.
"Die Chance der Wiedervereinigung, die hat mich damals unheimlich umgetrieben. Ich wollte unbedingt, dass das Volk darüber abstimmen kann", sagt Michael Stübgen — kurze, hellblonde Haare, dunkel-markante Brille — in Erinnerung an das Frühjahr 1990, als er Mitglied der ostdeutschen CDU wurde. "Und die CDU war für mich eben die Partei der Wiedervereinigung. Kohl war doch der Einzige, der an diesem Ziel immer festgehalten hat."
Die DDR lehnt er schon als Jugendlicher ab: Der Vater hat nichts für die Kommunisten übrig, die Mutter ist Katechetin in der Kirche und verweigert strikt, allen Einschüchterungsversuchen der Stasi zum Trotz, zu Wahlen zu gehen. "Natürlich hat das mein Verhältnis zu diesem Staat geprägt. Für mich war das kein Rechtsstaat, in dem ich leben wollte." Ein Schock ist vor allem das plötzliche Verschwinden seines acht Jahre älteren Bruders im Jahr 1978. Erst Monate später erhält die Familie ein offizielles Schreiben, welches sie informiert, dass dieser wegen geplanter Republikflucht festgenommen wurde. "50, 60 Stunden hat man ihn verhört, bis er schließlich gestanden hat, dass er vorhatte, mit einem Interzonenzug von Dresden in den Westen zu flüchten", erzählt Stübgen. Über zwei Jahre sitzt sein Bruder im Gefängnis.
Michael Stübgen schließt zu dieser Zeit seine Ausbildung als Maurer mit der Gesellenprüfung ab. Das Abitur im Anschluss an die Polytechnische Hochschule zu absolvieren, die er bis 1976 unter anderem in seiner Geburtsstadt Lauchhammer besucht, ist ihm aufgrund seines familiären Hintergrunds verwehrt worden. Der knapp 18-Jährige will aber nicht als Maurer arbeiten. Er will studieren. Die einzige Möglichkeit, die sich ihm bietet, ist ein Theologiestudium. "Ich habe aus Überzeugung den Wunsch gehabt, Pfarrer zu werden", sagt Stübgen mit Nachdruck. "Ich bin gläubiger Christ."
Gleichzeitig aber sei die Berufswahl auch eine Entscheidung gegen die DDR gewesen, gibt er zu: "Das war stiller Widerstand." Drei Jahre besucht er das kirchliche Proseminar in Naumburg, welches er mit dem Abitur 1981 abschließt, und beginnt noch im selben Jahr sein Theologiestudium. 1987 absolviert er das erste Staatsexamen, zwei Jahre später das zweite. 1989, im Jahr der Wende, beginnt Stübgen schließlich frisch ordiniert seinen Dienst als Pfarrer in der sächsischen Parochie Großthiemig, Brößnitz und Hirschfeld. Lange wird er jedoch nicht Pfarrer bleiben.
Im September 1989 beginnen die Montagsdemonstrationen zunächst in Leipzig, später auch in anderen Städten der DDR. Auch Stübgen macht sich immer wieder mit seinem Trabi auf nach Dresden, um an den dortigen Protesten teilzunehmen. "Das war eine enorme Anspannung damals", erinnert er sich. "Aber eine positive! Ich hätte eine solche Entwicklung gar nicht für möglich gehalten."
Wenige Monate später sitzt er mit am "Runden Tisch" der Gemeinde Großthiemig und tritt in die CDU ein. Dann geht alles plötzlich ganz schnell: Noch bei der Volkskammerwahl im März 1990 ist Stübgen als Wahlleiter dabei, bei der Kommunalwahl im Mai kandidiert er bereits selbst. Damit will er es eigentlich bewenden lassen, eine größere politische Karriere schwebt ihm nicht vor: "Die kommunalpolitische Arbeit, das war eigentlich mein Thema, das ließ sich auch gut mit dem Beruf vereinbaren."
Als der eigentlich schon sichere Kandidat des Wahlkreises Bad Liebenwerda-Finsterwalde-Herzberg-Lübben-Luckau für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl 1990 als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi enttarnt wird, bekommt Stübgen jedoch ein Angebot, dass er nicht ablehnen kann: "Nur wenige Stunden vor der Nominierungssitzungklingelte das Telefon und ich wurde gefragt, ob ich stattdessen als Kandidat antreten könnte." Er überlegt nicht lange: "So eine Frage kriegst du im Leben nur einmal gestellt — wenn du Nein sagst, dann war es das, so eine Chance kommt nicht wieder."
Stübgen nutzt die Chance: Er wird nicht nur als Kandidat nominiert, er gewinnt auch bei der Bundestagswahl im Dezember 1990 den Wahlkreis direkt mit 44 Prozent der Erststimmen. Ein gutes Ergebnis, doch Stübgen sagt bescheiden: "Ich habe damals auch vom Pfarrer-Bonus profitiert. Eigentlich war der nicht gerechtfertigt. Die Stasi-Unterlagen haben ja gezeigt, wie viele Pfarrer als IM für die Stasi gearbeitet haben. Trotzdem, damals hatten wir Pfarrer einfach einen Vertrauensvorschuss."
Der Wahlsieg, die erste gemeinsame Sitzung von ost- und westdeutschen Abgeordneten des Bundestages in Bonn — für Stübgen, der die deutsche Einheit herbeigesehnt hat, dominieren im Rückblick dennoch nicht die großen Gefühle: "Mit dem Wahltag war ich pleite", erzählt Stübgen amüsiert. "Die Kirche hatte mir seit zwei Monaten kein Gehalt gezahlt, und ich musste mir das nötige Geld von meiner Mutter leihen, damit ich tanken und nach Bonn fahren konnte." Dort angekommen, kann er sich glücklicherweise einen Vorschuss auf seine Abgeordneten-Diät auszahlen lassen.
Die ersten Tage erlebt er "wie im Film": Alles ist neu, alles muss schnell gehen, alles ist ein wenig chaotisch. Immerhin hat er nach kurzer Zeit ein eigenes Büro und ein Telefon. "Für einen Ostler war das schon was Besonderes", schmunzelt Stübgen. "Nur nach Hause telefonieren konnte ich nicht, die Leitungen waren völlig überlastet."
Stübgen wird zunächst Mitglied im Innenausschuss: Zusammen mit Hartmut Büttner (CDU/CSU) übernimmt er die Berichterstattung für das Stasi-Unterlagen-Gesetz: "Das war eine wichtige Erfahrung, dass wir das Gesetz nach einer sehr intensiven Beratungszeit durchsetzen konnten. Viele aus dem Westen wollten damals die Stasi-Akten am liebsten einstampfen. Aber ich war immer der Meinung, dass jeder die Chance haben muss zu lesen, was über ihn geschrieben wurde — und von wem."
Mehrere Male steht das Gesetz auf der Kippe, doch nach langem Ringen tritt es schließlich am 29. Dezember 1991 in Kraft. Auch in der Frage der Entschädigung für die Vertriebenen, deren Schicksal in der DDR nie anerkannt worden war, hat Stübgen eine klare Position: "Die meisten Betroffenen hätten nach dem Lastenausgleichgesetz keine Chance gehabt, die notwendigen Nachweise zu erbringen. Deswegen haben gerade wir Ostdeutschen uns für eine Pauschalentschädigung stark gemacht."
In den letzten zwei Jahren haben ihn als Mitglied des Europaausschusses noch viel größere Geldsummen beschäftigt: etwa die milliardenschweren Hilfszahlungen für Griechenland im Rahmen des vorläufigen Euro-Rettungsschirms EFSF. Stübgen hat diese immer befürwortet. Auch jetzt, wo über Griechenland wieder die Gefahr eines Staatsbankrotts wie ein Damoklesschwert schwebt, ist er von ihrer Notwendigkeit überzeugt: "Ohne sie wäre die Schockwirkung auf die Finanzmärkte katastrophal gewesen."
In der Diskussion um den Europäischen Stabilitätsmechanismus und neue Wachstumsprogramme liegt Stübgen eines besonders am Herzen: Die Umsetzung des "Fiskalpakts", mit dem die Länder der EU künftig im Bereich der Fiskalpolitik enger zusammenarbeiten wollen. Für ihn ist der Vertrag, den viele als den nächsten Schritt zur Europäischen Integration sehen, vor allem ein Garant dafür, dass die EU-Mitgliedstaaten "endlich beginnen, eine verantwortungsvolle, stabilitätsorientierte Fiskalpolitik zu betreiben". "Daran führt kein Weg vorbei", betont Stübgen.
Dann muss er dringend zu einer Sitzung. Eins aber lässt er sich auch in der Eile nicht nehmen: Auf dem Weg vom Büro zum Bundestag durch das Brandenburger Tor zu gehen. Auch 22 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das für ihn noch immer ein besonderer Moment. (sas)