Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > Textarchiv
Im Ausland zu leben ist für Marin Yotov nichts Neues. Schon als Zehnjähriger zog er mit der Familie nach Wien. Seine Mutter arbeitete bei der bulgarischen Botschaft in Österreich. Nach drei Jahren ging es zurück in die Heimat. Zwei Jahre später wurde Svetla Nikolova Yotova an die Botschaft nach Stockholm beordert – ihr Sohn Marin Yotov kam natürlich mit und blieb drei Jahre in der schwedischen Hauptstadt. "Das war schon eine schöne Zeit", sagt er rückblickend. "Man lernt durch die ständigen Wechsel auch viel über fremde Kulturen und natürlich auch neue Sprachen", so der 23-Jährige Bulgare.
Noch bis Ende Juli dieses Jahres lebt Marin Yotov nun in Berlin und absolviert ein Praktikum im Rahmen des Internationalen Parlamentsstipendiums (IPS) bei der Bundestagsabgeordneten Rita Hagl-Kehl (SPD). Dabei lernt er nicht nur viel Interessantes über die Arbeit des Bundestages, sondern auch, dass das Leben in einer WG durchaus spannend ist.
Verkehrspolitik und Landwirtschaftspolitik sind die Schwerpunkte der Arbeit von Rita Hagl-Kehl. Für Marin Yotov ist ersteres das interessantere Politikfeld. "Das Thema ist internationaler und hat auch viel mit der EU zu tun", sagt er und freut sich, mit "seiner" Abgeordneten nicht nur viele Sitzungen und Veranstaltungen besuchen zu dürfen, sondern auch Arbeiten leisten zu können, "die über das Kopieren hinausgehen".
Nicht zuletzt seiner hervorragenden Deutschkenntnisse entwirft er auch Pressemitteilungen und Briefe für das Büro von Rita Hagl-Kehl. Bei der Sozialdemokratin aus Niederbayern fühlt er sich gut aufgehoben. "Man spürt, dass sie unbedingt einen IPS-Stipendiaten als Praktikanten haben wollte", sagt er.
Das IPS sieht er als einen wichtigen Baustein für seine berufliche Entwicklung an. Denn obwohl erst 23 Jahre alt, hat Marin Yotov klare Vorstellungen von seiner Zukunft: "Ich würde gern künftig im bulgarischen Außenministerium arbeiten", sagt er. Um als Diplomat in die Fußstapfen seiner Mutter zu treten, sozusagen.
Große Vorteile erhofft er sich von der Tatsache, dass schon ein Familienmitglied im Dienste des Außenministeriums steht, nicht. "Entscheidend wird sein, ob ich das kann", denkt der Bulgare, der sich als durchaus heimatverbunden bezeichnet, auch wenn ihn gelegentlich das Fernweh packt.
"Zuletzt war ich fünf Jahre in Bulgarien und habe an der Uni in Sofia meinen Bachelor-Abschluss gemacht. Da kribbelte es schon und ich wollte wieder los", sagt er. Dann aber fehle ihm Bulgarien wieder. "Wenn ich längere Zeit im Ausland bin, will ich wieder zurück nach Bulgarien."
Dass Marin Yotov zuhause studiert hat, war eine bewusste Entscheidung. "Ich hätte das beispielsweise auch in Stockholm tun können", sagt er und verweist darauf, dass die bulgarischen Universitäten sehr gut seien. Und dennoch: Viele seiner ehemaligen Mitschüler sind zum Studieren weggegangen – ob sie zurückkehren werden, ist unsicher. "Von meiner Abiturklasse ist die Hälfte ins Ausland gegangen, um zu studieren", erzählt er.
Für sein Heimatland eine schwierige Situation: Nicht nur Studenten, sondern auch viele fertig ausgebildete Fachkräfte verlassen dank der seit Anfang des Jahres geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU Bulgarien. Ärzte, die beispielsweise nach Deutschland gehen, fehlen dann im Land. Was aber muss passieren, damit der Exodus beendet wird? Eine Patentlösung hat auch Marin Yotov nicht. "Viele Bulgaren sind mit der Politik im Lande in seiner Gesamtheit nicht zufrieden", sagt er.
Den politischen Stillstand im Land sieht er auch darin begründet, dass seit den letzten Wahlen 2013 eine Koalition aus Sozialisten, Nationalisten und der Türken-Partei an der Macht ist, die sich eigentlich nur aus einem einzigen Grund zusammengefunden habe: "Sie wollten die zuvor regierenden Konservativen aus der Regierung drängen."
Die Bevölkerung, so sein Eindruck, ist unzufrieden. "Seitdem die aktuelle Regierung im Amt ist, gibt es Demonstrationen gegen sie." Neuwahlen könnten die Lage verbessern, glaubt er. "Es gibt unter den Bulgaren eine Mehrheit für diesen Schritt", sagt der 23-Jährige.
Ein bisschen "nervig" findet er es, dass in der deutschen Berichterstattung über Bulgarien – und Rumänien – die sogenannten Armutsflüchtlinge im Mittelpunkt stehen, die nach Deutschland kommen würden, um von den sozialen Sicherungssystemen zu profitieren. Solche Angriffe gegen seine Landsleute seien ungerecht. Nicht zuletzt die Gesetzeslage würde einem solchen Ansinnen im Wege stehen: "Es ist doch nicht so, dass die Bulgaren einfach nach Deutschland kommen können und sofort Sozialhilfe kassieren", gibt er zu bedenken.
Über dieses Thema und viele andere diskutiert Marin Yotov natürlich auch mit den anderen Stipendiaten. "Wir sind ein gutes Team. Eigentlich verstehen sich alle 120 Stipendiaten sehr gut", lautet sein Fazit der ersten Monate. Er persönlich macht in Berlin derzeit eine ganz neue Erfahrung: "Ich habe noch nie mit jemandem, den ich zuvor nicht kannte, zusammengewohnt", sagt er. Nun wird er möglicherweise doch noch zu einem WG-Typ. Mit seinem Mitbewohner aus Russland versteht er sich bestens. (hau/30.04.2014)