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Europa riskierte 1914 einen großen Krieg, obwohl nicht wenige Zeitgenossen bereits ahnten, dass ein mit modernen Mitteln geführter Krieg verheerende Auswirkungen haben könnte. Die Gründe für die Risikobereitschaft, den Konflikt doch zu wagen, erörterte der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Herfried Münkler (links) am Dienstag, 4. März 2014. Münkler betrachtete in seinem Vortrag (Video) in der Veranstaltungsreihe W-Forum der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages den Ersten Weltkrieg als "Feld politischen Lernens" und trug über dessen Ursachen und Auswirkungen vor.
Motiviert sei seine Untersuchung durch die "Unzufriedenheit über die deutsche Literaturlage über den Ersten Weltkrieg" gewesen. Doch wollte er nicht allein eine Literaturlücke schließen, sondern begründete die Aktualität seiner historischen Untersuchungen damit, dass auch 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges die Politik mit den Konsequenzen des "Zerfalls der Imperien des Osmanischen Reiches, des Zarenreiches und der Habsburger Monarchie beschäftigt ist".
Anders als ein Historiker habe Herfried Münkler als Politikwissenschaftler deshalb den für Europa folgenschweren Konflikt in einer "sozialwissenschaftlichen Herangehensweise rekonstruiert" und unterschiedliche Optionen und Modelle herausgearbeitet. "Mich hat interessiert, warum die Akteure gehandelt haben, wie sie gehandelt haben und warum sie nicht gehandelt haben, wie sie sollten", erklärte er seinen Ansatz.
Während Historiker beschreiben würden, was sie in den Quellen vorfinden, hätten den Politikwissenschaftler die "Irrtümer, Illusionen und Fehler" der Zeitgenossen interessiert. Und zwar die Fehler, die in der historischen Nachschau dazu auffordern, danach zu fragen, ob wir in einer analogen Situation nicht genauso handeln würden.
Dabei hätten drei Leitfragen im Mittelpunkt der Untersuchung gestanden. Münkler fragte, warum der Weltkrieg sich nicht lokalisieren ließ, warum sich am Ende des Jahres 1914 nicht alle kriegführenden Parteien auf die Rückkehr auf den Vorkriegsstatus einigen konnten und warum die Menschen die brachial geführten Schlachten so lange aushielten.
So führte Münkler als eine Erklärung aus, dass es der deutschen Heeresleitung gelang, das "dramatische Ungleichgewicht" der Truppenstärke im Vergleich zu den an Material und Soldaten überlegenen Gegnern durch Lernen effektiv auszugleichen. So hätten "innovative Soldaten" mit der Entwicklung der "elastischen Verteidigung" in den Stellungskriegen die Kampfzone zugunsten der Kampfmoral ausgeweitet.
Mit der Konsequenz, dass auf deutscher Seite die Soldaten mobiler und weniger dem zermürbenden Granatbeschuss ausgesetzt gewesen seien. "Dadurch erhöhte sich die heroische Disposition" und es sei anders als in den anderen Armeen nicht zum Kampfstreik auf deutscher Seite gekommen. Bis zum Frühsommer 1918 hätte sich auf diese Weise die trügerische Hoffnung aufrechterhalten lassen, dass ein Sieg noch möglich wäre.
Einen anderen Aspekt hob Münkler hervor, indem er beschrieb, dass das Bewusstsein der Eliten von "Niedergangsängsten und Einkreisungsobsessionen" geprägt gewesen sei. Ein Phänomen, das vor allem für Deutschland, Österreich, Russland und Italien zu der Zeit gegolten habe.
Ein Dilemma, das den Politikwissenschaftler dazu bewog, auch Bezug auf die aktuellen politischen Entwicklungen auf der Krim zu nehmen. Das harte Vorgehen Russlands gegen sein Nachbarland Ukraine sei für viele Beobachter unerwartet ausgefallen. "Wir könnten das Vorgehen von Putin besser verstehen, wenn wir akzeptieren würden, dass die heutige russische Elite von Niedergangsängsten und Einkreisungsobsessionen geplagt ist", sagte Münkler.
Am Beispiel des Ersten Weltkrieges führte der Politikwissenschaftler einen weiteren Grund für das Scheitern eines frühen Kriegsendes an: "Es gab keinen starken Vermittler." Die Rolle der USA sei am Anfang des Krieges weltpolitisch noch nicht genug ausgeprägt gewesen und die Interessen aller in den Krieg involvierten Kriegsparteien seien zu unterschiedlich ausgefallen.
Ein rechtzeitiger Ausstieg aus dem Konflikt habe auf diese Weise keine Vermittlung finden können und sei für die Zeitgenossen immer unvorstellbarer geworden, je mehr Opfer der Krieg forderte. "Die Verwandlung der gefallenen Körper in heilige Opfer" habe auf den Seiten der Kontrahenten jeden Kompromiss als eine Niederlage erscheinen lassen. Durch solch eine "sakrale Semantik" sei jede "nüchterne Bilanz" blockiert worden.
Herfried Münkler ist Professor am Lehrstuhl für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. (eis/04.03.2014)