Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > Textarchiv
Gernot Erler ist seit 2013 Koordinator der Bundesregierung für Russland, Zentralasien und die Länder der Östlichen Partnerschaft. © DBT/photothek
Der Russland-Koordinator der Bundesregierung, Dr. h.c. Gernot Erler (SPD), hält es für nicht ausgeschlossen, dass sich Russlands Regierung auch über die Krim hinaus Teile der Ukraine sichert. Angesichts der Tatsache, dass die neue politische Führung in Kiew nach Westen strebe, sei es "für Putin die zweitbeste Lösung, wenigstens Teile der Ukraine" für die von ihm geplante Eurasische Union zu sichern. "Insofern ist es denkbar, dass die Krim erst der Anfang ist", sagte er am Montag, 17. März 2014, in der Wochenzeitung "Das Parlament". Das Interview im Wortlaut:
Herr Dr. Erler, Sie gelten als russlandfreundlich, haben bei aller Kritik immer auch um Verständnis für Putins Politik geworben. Wie geht es Ihnen in diesen turbulenten Tagen?
Ich durchlebe im Augenblick tatsächlich schwierige Zeiten. Ich habe aber auch heute kein Problem damit, als "Russlandversteher" tituliert zu werden. Die Motive hinter Russlands Handeln zu verstehen, bedeutet nicht, immer mit ihnen einverstanden zu sein. Denn ich glaube, dass eine rationale Politik auf Kenntnis beruhen sollte, und das ist wichtiger als emotionale Entscheidungen. Zumindest die politische Klasse in Russland hat das Gefühl, dass die EU die Schwäche Russlands lange Zeit rücksichtslos ausgenutzt hat, um entgegen früheren Zusagen EU und Nato nach Osten auszudehnen. Auch die Raketenabwehrpolitik von George W. Bush, der Irakkrieg und die Anerkennung des Kosovos haben viele Russen verärgert. Es gibt diese subjektive Wahrnehmung in Russland, und ohne diese Frustrationserlebnisse kann man viele Elemente der russischen Politik nicht verstehen.
Die EU ist bisher mit all ihren Versuchen, Russland durch Diplomatie und erste Sanktionen zum Einlenken in der Krim-Frage zu bewegen, gescheitert. Halten Sie eine politische Lösung noch für möglich?
Deutschland und die EU werden weiter darauf dringen, dass sich Russland auf Gespräche einlässt. Die Sanktionen, die von der EU in einer Stufenabfolge beschlossen worden sind, haben allein dieses Ziel. Wenn die russische Führung entscheidet, die Annexion der Krim zu vollziehen, und daran lässt sich aus heutiger Sicht wohl nichts mehr ändern, wird es weitere, schärfere Sanktionen geben.
Sie denken, ein Anschluss der Krim ist unausweichlich?
Diese Frage ist in der russischen Führung wohl längst entschieden. In der Duma wird gerade ein gesetzlicher Rahmen für das geschaffen, was wir in der westlichen Welt eine Annexion nennen. In Russland wird übrigens eher das Wort "Wiedervereinigung" verwendet. Dahinter steckt die Überzeugung, dass die sogenannte Schenkung der Krim an die Ukraine durch den damaligen Chef der KPdSU Chruschtschow 1954 eine widersinnige Entscheidung gewesen ist. Diese wird nach Auffassung der russischen Regierung nun korrigiert.
Eine Annexion ist aber völkerrechtswidrig. Reicht die Androhung verschärfter Sanktionen aus? Putin scheint bislang wenig beeindruckt.
Einen anderen Weg gibt es nicht, denn eine kriegerische Auseinandersetzung kommt nicht in Frage. Wichtig ist, dass es zwischen jeder Sanktionsstufe immer eine Tür gibt, auf der "Exit" steht. Die andere Seite muss immer die Möglichkeit haben, an den Verhandlungstisch zurückzukehren und beispielsweise der Bildung einer Kontaktgruppe zuzustimmen, wie sie von deutscher Seite vorgeschlagen wurde.
Wie könnten Wirtschaftssanktionen gegen Russland aussehen?
Es ist kein Zufall, dass sich die EU noch nicht auf konkrete Maßnahmen festgelegt hat. Da wird es noch einen Abstimmungsprozess geben müssen. Denn es ist klar: Ein Land wie Deutschland fügt sich durch die Zustimmung zu Wirtschaftssanktionen auch selbst Schaden zu. 6.200 deutsche Firmen sind in Russland aktiv. Wir haben 20 Milliarden Euro Direktinvestitionen in Russland, das Handelsvolumen betrug im Jahr 2013 76 Milliarden Euro. Von all diesen Zahlen hängen mindestens 300.000 Arbeitsplätze ab. Und es gibt die wechselseitige Abhängigkeit im Energiesektor. Die USA haben viel früher Sanktionen beschlossen. Aber sie betreiben praktisch null Handel mit Russland und sie beziehen auch keine russischen Energieressourcen.
Putin kennt diese Fakten natürlich auch. Er könnte darauf spekulieren, dass sich die EU genau deshalb nicht auf härtere Sanktionen einigen wird.
Dazu sage ich ganz klar: Jede Spekulation, dass die EU sich nicht verständigen kann, ist naiv. Es wird eine Antwort geben, sollte Russland seinen Kurs fortsetzen.
Heute streiten wir über die Krim. Folgt danach die Ostukraine oder gar Kiew? Wie weit wird der russische Präsident noch gehen?
Ich hoffe, dass die russische Führung einsieht, dass der Preis dafür zu hoch wäre. Im Moment ist aber schwer vorherzusagen, was Putin weiter vorhat.
Warum hat es Putin überhaupt soweit kommen lassen? Was ist sein Motiv?
Die jetzige russische Führung will den Regimewechsel in Kiew auf keinen Fall erfolgreich sein lassen. Diese von unten kommenden Regimewechsel hat sie schon immer als Bedrohung angesehen. Das war 2003 in Georgien so, 2004 in der Ukraine und 2005 in Kirgistan. Dahinter steckt die Angst, dass so etwas auch in Russland passieren könnte. In den Jahren 2011 und 2012 hat es dort ja schon eine, inzwischen erstickte Protestbewegung gegeben. Das hat die russische Regierung nicht vergessen.
Putin hat im Wahlkampf 2011 die Idee einer Eurasischen Union formuliert. Welche Rolle spielt sie aktuell?
Diese Idee ist sehr interessant. Dabei geht es im Grunde genommen um eine Reorganisation des postsowjetischen Raums. Ehemalige Sowjetrepubliken sollen sich in einer Union sammeln, die dem Strickmuster der EU durchaus entspricht. Ein erstes Bauelement dieser Eurasischen Union, die Zollunion, existiert schon seit ein paar Jahren zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan. Vor allem aber will Putin die Ukraine integrieren. Sie wäre, schon wegen ihrer Größe, mit Russland das Kernstück eines solchen Staatenbundes.
Die neue Regierung in Kiew strebt aber klar in Richtung EU. Für Putins Idee sieht es daher schlecht aus.
Deshalb ist es für Putin die zweitbeste Lösung, wenigstens Teile der Ukraine für die Eurasische Union zu sichern. Insofern ist es denkbar, dass die Krim erst der Anfang ist.
Schon in den kommenden Tagen soll der politische Teil des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine unterzeichnet werden. Schüttet das nicht weiteres Öl ins Feuer?
Es gibt dazu keine Alternative. Die Übergangsregierung in Kiew drängt darauf, und die EU kann schlecht sagen: Das geht jetzt nicht. Das Abkommen war ja bereits im November 2013 bereit zur Unterschrift, und es war übrigens Janukowitsch, der es mit der EU ausgehandelt hat, bevor er sich auf Druck Russlands in letzter Minute entschied, es nicht zu unterzeichnen.
Am 25. Mai wählen die Ukrainer eine neue Regierung. Kann der künftige Präsident das so tief gespaltene Land überhaupt als Ganzes repräsentieren?
Das wird außerordentlich schwierig. Das Personal gibt das auch nur begrenzt her. Viele der Kräfte des Maidan sind Repräsentanten des alten Systems, welches der Maidan eigentlich beseitigen wollte. Es gibt in der Ukraine praktisch keine neuen, unbelasteten Leute, niemanden, der nicht in den wirtschaftlichen und politischen Strukturen, auch den Selbstbereicherungsstrukturen der Ukraine, eine Rolle gespielt hätte.
Das klingt, als würde die Ukraine noch weit über die Krim-Frage hinaus ein Sorgenkind in Europa bleiben.
Ganz sicher. Die EU hat sich schnell bereit erklärt, elf Milliarden Euro an Finanzhilfen zur Verfügung zu stellen. Das ist ziemlich viel Geld und ich glaube, dass es nicht reichen wird. Irgendwann wird in der europäischen Öffentlichkeit die Frage gestellt werden: Was haben wir davon, ein Land mit Summen im zweistelligen Milliardenbereich zu unterstützen, das zwar zu Europa gehört, aber nicht Mitglied der Europäischen Union ist? Da wird der Solidaritätsbegriff neu diskutiert werden müssen.
(joh/17.03.2014)