Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > Textarchiv
Sehr unterschiedliche Sichtweisen auf die Macht und Ohnmacht europäischer Parlamentarier hat die Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen erörtert. Bei ihrer Diskussionsveranstaltung "Parlamentarismus in der EU" am Mittwoch, 9. April 2014, präsentierten zwei Wissenschaftler und ein Abgeordneter ihre Thesen über den Einfluss des Europaparlaments im Vergleich zu ihren nationalen Pendants und den anderen europäischen Institutionen.
Luc Frieden, ehemaliger Finanzminister Luxemburgs und derzeitiger Abgeordneter des luxemburgischen Parlaments, betonte: "Europa war und Europa bleibt in meinen Augen etwas Rationales und nicht Emotionales." Die vielen Reden, in denen versucht werde, positive Gefühle für Europa zu wecken, gehen seiner Meinung nach am Sinn der Gemeinschaft vorbei.
Die EU habe weder eine gemeinsame Sprache noch gemeinsame Medien oder eine National- beziehungsweise Olympiamannschaft. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl wie in den Vereinigten Staaten von Amerika könne sich daher nicht bilden. Frieden sagte, aus diesem Grund müssten Europäer auf den Mehrwert achten, den die Gemeinschaft mit anderen Staaten ihnen bringe. Und diesen Mehrwert gebe es.
Als Beispiele nannte Frieden die Außen- und Sicherheitspolitik. "Die Außenpolitik ist ein Bereich, in dem wir nur ernst genommen werden, wenn wir mit einer Stimme sprechen." Bei der Verteidigungspolitik mache eine stärkere Verzahnung, beispielsweise der koordinierte Einkauf von Material für das Militär, ebenfalls Sinn. Allerdings sei das ein schwieriges Feld, da die Armeen sehr national orientiert seien. Auch bei der inneren Sicherheit plädierte Frieden für eine noch stärkere Zusammenarbeit.
"Meine Erfahrung ist, wenn wir mehr zusammenarbeiten, erreichen wir mehr." Schwere Kriminalität wie Drogen- und Waffenhandel finde schließlich grenzüberschreitend statt. Er halte es für möglich, dass nicht alle 27 EU-Mitglieder immer in gleichem Maße an Entscheidungen beteiligt seien müssten. Schließlich habe auch nicht jeder den Euro eingeführt, sagte Frieden.
Prof. Dr. Andreas Maurer vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck beschäftigte sich unter anderem mit der Frage, unter welchen Bedingungen sich das Europaparlament gegenüber dem Ministerrat und der Kommission durchsetzen kann und in welchem Maße es an Entscheidungen beteiligt ist.
Er kam zu dem Schluss, dass viele Akte zustimmungspflichtig seien, dass Parlament sich also damit beschäftigen muss. Allerdings sei die Zahl der Konsultationen seit dem Vertrag von Nizza gesunken. Insgesamt sei die Verantwortung der Abgeordneten über die Jahre gestiegen, beispielsweise der Umwelt-, der Binnemarkt- beziehungsweise Verbraucherausschuss sowie der Fischerei- beziehungsweise Landwirtschaftsausschuss seien sehr mächtig.
"Damit haben viele Abgeordnete ein Problem", sagte Maurer. "Viele Abgeordnete sehen sich als Vertreter von Redeparlamenten." Sie seien darauf eingestellt, eine Regierung mittels Anfragen und ähnlichem zu kontrollieren. Tatsächlich bestehe die Arbeit aber aus vielen Details, mit denen sie sich als Berichterstatter auseinandersetzen müssten. Die Kunst sei es, aus diesen technischen Errungenschaften eine politische Botschaft zu ziehen und dem Wähler zu erklären. Das falle vielen schwer.
Schwer sei außerdem, dem Wähler zu erklären, warum ein Abgeordneter nicht mit Angehörigen seiner Fraktion stimme, sondern Allianzen quer durch alle politischen Lager bilde. "Ein Kommunist aus Griechenland stimmt mit einem Abgeordneten der CSU" – das sei zwar nicht die Regel, aber auch keine Seltenheit.
Kritisch sah Maurer auch das Trilogverfahren, mit dem das Parlament, der Rat und die Kommission in kleiner Runde eine Einigung bei Gesetzesmaßnahmen erzielen wollen. Hier werde das Parlament oft "über den Tisch gezogen". Maurer plädierte dafür, das Verfahren auf Routinemaßnahmen zu beschränken. Um die Fraktionen zu stärken und ihre unterschiedlichen Positionen sichtbarer zu machen, sollten sie jeweils einen eigenen Pressedienst einführen, denn das könne das Parlament nicht leisten, so Maurer.
"Die Gemeinschaftsmethode hat ein Stück weit ihre Grenzen erreicht", sagte Prof. Dr. Frank Schorkopf vom Lehrstuhl für öffentliches Recht und Europarecht an der Georg-August-Universität Göttingen. Dass alle immer alles gemeinsam entschieden, sei in der heutigen Zeit nicht immer die beste Methode.
Eine Zusammenarbeit einzelner Staaten innerhalb der EU halte er "keineswegs für die zweitbeste Lösung". Er könne sich beispielsweise vorstellen, dass es ein europäisches Parlament nur aus Mitgliedstaaten der Europgruppe gebe. Eine weitere Möglichkeit, Europa voranzubringen, sei, eine zweite Kammer einzuführen aus rein nationalen Parlamentariern. Auch die mittelbare Direktwahl des Kommissionspräsidenten halte er für einen eventuellen Weg nach vorn.
Ein Problem sei der Antagonismus zwischen Europäischem Parlament und Ministerrat. Die Parlamentarier seien nicht auf die gegnerische Fraktion, sondern den Rat fixiert. Außerdem sei die EU weiterhin kein politischer Primärraum. In der Krise hätten die Bürger von ihren nationalen Regierungen weit mehr als von der EU erwartet, dass sie Lösungen herbeiführen. (ske/10.04.2014)