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Die Arbeitsmarktexpertin von Bündnis 90/Die Grünen, Brigitte Pothmer, warnt davor, dass unterhalb des geplanten flächendeckenden Mindestlohns ein neuer Niedriglohnsektor entsteht. Denn die Mindestlohngegner hätten noch lange nicht aufgegeben und würden derzeit wieder eine Ausnahme nach der anderen fordern, sagt Pothmer in einem am am Dienstag, 10 Juni 2014, veröffentlichten Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" anlässlich der ersten Lesung des Mindestlohngesetzes am 5. Juni im Bundestag. Das Interview im Wortlaut:
Frau Pothmer, Ihre Partei hat im Wahlkampf einen Mindestlohn gefordert, jetzt soll er kommen. Da müssten Sie doch zufrieden sein.
Wir fordern seit zehn Jahren einen gesetzlichen Mindestlohn. Seit ich im Parlament bin, habe ich 22 Debatten zu dem Thema bestritten, und ich hatte lange das Gefühl, da würde ein toter Gaul geritten. Dass er nun doch ins Traben kommt, freut mich natürlich.
Aber ganz zufrieden sind Sie trotzdem nicht?
Der Mindestlohn ist gut, das Gesetz ist es nicht. Das liegt vor allem an den vorgesehenen Ausnahmen. Zum Beispiel sollen Langzeitarbeitslose ein halbes Jahr lang keinen Mindestlohn bekommen. Damit wird eine sehr heterogene Gruppe über einen Kamm geschert und als nicht leistungsfähig stigmatisiert. Es gibt in der Tat leistungsgeminderte Langzeitarbeitslose, aber für sie haben wir mit dem Lohnkostenzuschuss schon ein sehr zielgenaues Instrument, um sie für Arbeitgeber attraktiver zu machen.
Ausnahmen vom Mindestlohn soll es auch für Jugendliche ohne Berufsausbildung geben. Wie sinnvoll ist das?
Der Mindestlohn darf kein Anreiz sein, auf eine Ausbildung zu verzichten und jobben zu gehen. Das nehme ich außerordentlich ernst. Aber die Regelung von Frau Nahles taugt nichts. Denn aktuell sind nur etwas mehr als 9.000 junge Menschen unter 18 Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Von der Ausnahmeregelung betroffen wären aber auch weitere 320.000 unter 18-Jährige, die neben der Schule oder der Ausbildung jobben. Diese Regelung schießt also weit am Ziel vorbei. In einem Punkt aber sind sich alle Fraktionen einig: Auszubildende sollen keinen Mindestlohn bekommen. Eine Ausbildung ist kein Arbeitsverhältnis, bei ihr steht das Lernen im Vordergrund.
Was stört Sie an der Ausnahmeregel für Praktikanten?
Praktika im Rahmen einer Ausbildung oder Orientierungspraktika bis sechs Wochen auszunehmen, ist richtig. Es gibt jetzt aber sehr viel weitergehende Ausnahmeforderungen bei den Praktika. Das halte ich für falsch. Die sogenannte Generation Praktikum – junge Leute, die sich nach ihrer Ausbildung von einem gering bezahlten Praktikum ins nächste hangeln – darf es nicht mehr geben.
Kritiker sagen: 8,50 Euro Mindestlohn mögen in München oder Frankfurt sinnvoll sein, in Vorpommern oder im Erzgebirge aber vernichtet es Arbeitsplätze.
Der Mindestlohn von 8,50 Euro ist eine Lohnuntergrenze, unter die niemand fallen sollte. Er ist so kalkuliert, dass vollzeitbeschäftigte Alleinstehende in der Regel nicht noch mit Hartz IV aufstocken müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Für Münchner Verhältnisse fällt der Mindestlohn angesichts der Mieten eher zu niedrig aus. Ich behaupte aber auch, dass es in München oder in Stuttgart ohnehin kaum Leute geben wird, die nur für den Mindestlohn arbeiten. Der Mindestlohn ist kein sozialpolitisches Instrument. Er soll Lohndumping verhindern und faire Wettbewerbsbedingungen herstellen. Menschen mit zu hohen Mieten müssen zum Beispiel durch Wohngeld unterstützt werden.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass bereits geltende tarifliche Mindestlöhne, auch wenn sie unter 8,50 Euro liegen, bis Ende 2016 weitergelten sollen. Ist das im Sinne der Tarifautonomie vernünftig?
Ich kann mir kaum vorstellen, dass zum Beispiel eine gewerkschaftlich engagierte Mitarbeiterin, die vielleicht selber für einen Tarifvertrag gekämpft hat, es als Stärkung ihres Engagements empfindet, wenn sie zwei Jahre später 8,50 Euro bekommt als eine Kollegin in einem Betrieb ohne Tarifvertrag. Das wird sicher von vielen Menschen, die nicht vom Mindestlohn profitieren, als große Ungerechtigkeit empfunden.
In Deutschland soll künftig ähnlich wie in Großbritannien eine unabhängige Kommission den Mindestlohn festlegen. Was gibt es daran auszusetzen?
Dass das eben keine Mindestlohnkommission nach britischem Vorbild ist. Dort setzt sie sich zusammen aus Arbeitgebern, Arbeitnehmern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, alle gleichberechtigt mit Stimmrecht. Die Akzeptanz des Mindestlohns in England bei Arbeitgebern, bei Arbeitnehmern und in der gesamten Gesellschaft hat sehr viel mit der Unabhängigkeit dieser Kommission zu tun. Im Gesetzentwurf für Deutschland ist vorgesehen, dass die Wissenschaft lediglich beratende Kompetenz hat. Außerdem wird gefordert, dass die Mindestlohnkommission lediglich die Tarifabschlüsse der zurückliegenden zwei Jahre nachvollziehen soll. Dafür braucht man keine Kommission, da kann man auch einfach die Zahlen des Statistischen Bundesamtes nachvollziehen. In Großbritannien dagegen evaluiert die Wissenschaft die Wirkung des jeweiligen Mindestlohns in den unterschiedlichsten Branchen und Regionen. Das heißt, dass die Mindestlohnkommission wissenschaftlich basiert und möglichst unabhängig von politischer Einflussnahme jeder Art arbeiten kann. Das hat eine ganz andere Qualität.
Die deutsche Mindestlohnkommission soll erstmals für 2018 die Höhe des Mindestlohns neu festlegen. Bis dahin sollen die 8,50 Euro gelten.
Das halte ich für einen großen Fehler. 2018 sind die 8,50 Euro von heute höchstens noch acht Euro wert. Damit würde ein Ziel des Mindestlohns, nämlich dass alleinstehende Vollzeitbeschäftigte davon ohne Aufstocken leben können sollen, nicht mehr erreicht. Außerdem betonen insbesondere CDU und CSU ständig, dass nicht die Politik den Mindestlohn festlegen soll, sondern die Mindestlohnkommission. Trotzdem wollen sie selbst den Mindestlohn drei Jahre lang einfrieren und damit politisch festlegen. Ich meine, dass mit dem Inkrafttreten des Gesetzes auch die Mindestlohnkommission ihre Arbeit aufnehmen sollte. Sie wird dann sicher eine kluge Entscheidung treffen, wann und wie der Mindestlohn erstmalig angepasst werden muss.
Was nützt der schönste Mindestlohn, wenn er umgangen wird, etwa weil unrealistische Leistungsvorgaben bei Akkordarbeit dazu führen, dass jemand mehr Stunden arbeiten muss, als er bezahlt bekommt?
Die Kreativität, die manche Arbeitgeber hier an den Tag legen, ist wirklich bemerkenswert. Aber damit haben wir ja Erfahrung. Wir haben zum Beispiel im Gebäudereiniger-Handwerk bereits einen funktionierenden tariflichen Mindestlohn, und das ist ja der Bereich, in dem zum Teil nach Quadratmetern der zu reinigenden Flächen bezahlt wird. Das wird dann eben von Experten in Stunden umgerechnet. Aber es muss in der Tat auch Kontrollen geben, sonst ist der Mindestlohn ein Papiertiger. Deswegen muss die schon jetzt völlig überlastete Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die für die Kontrolle der Mindestlöhne zuständig ist, deutlich personell aufgestockt wird.
Sie haben eingangs von Ihrer grundsätzlichen Zufriedenheit darüber gesprochen, dass der Mindestlohn nun kommen soll. Mit welchem Gefühl gehen Sie jetzt in die parlamentarischen Beratungen?
Ich halte die Messen noch nicht für gelesen. Die Mindestlohngegner haben noch lange nicht aufgegeben. Man sieht es daran, dass zurzeit wieder eine Ausnahme nach der anderen gefordert wird – für Taxifahrer, Menschen in Ostdeutschland, Saisonarbeiter. Wenn die alle ausgenommen werden, würde unterhalb des Mindestlohns ein neuer Niedriglohnsektor entstehen, und Lohndumping in Deutschland bliebe an der Tagesordnung. Dagegen werden wir natürlich im besten Sinne des Wortes opponieren. (che/10.06.2014)