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Ihren Willen, sich weiterhin um die Beantwortung der vielen offenen Fragen im Zusammenhang mit der dem "Nationalsozialistischem Untergrund" (NSU) angelasteten Erschießung von neun türkisch- oder griechischstämmigen Kleinunternehmern und einer Polizistin zu bemühen, bekundeten am Mittwoch, 5. November 2014, in einer vereinbarten Debatte die Sprecher aller Fraktionen. Die Diskussion war anberaumt worden, weil sich am 4. November 2014 das Auffliegen des NSU-Trios, das über zehn Jahre von Geheimdiensten und Polizei nicht entdeckt worden war, zum dritten Mal jährte.
"Es sind noch nicht alle Fragen geklärt", sagte Clemens Binninger (CDU/CSU). "Wir lassen nicht locker", betonte die SPD-Abgeordnete Dr. Eva Högl. "Der NSU-Komplex ist noch nicht abgeschlossen", unterstrich Petra Pau (Die Linke), die kritisierte, dass "das Staatsversagen weitergeht". Irene Mihalic von den Grünen warf den Behörden vor, immer noch "mauern, vernebeln und vertuschen" zu wollen. Man könne den Eindruck gewinnen, so Integrationsstaatsministerin Aydan Özoğuz (SPD), "dass wir das aufklären, was vorher verschleiert worden ist".
Angesichts des Versagens der Sicherheitsinstanzen bei den Ermittlungen zu den dem NSU zugerechneten Hinrichtungen, Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen sprach Innenminister Dr. Thomas de Maizière (CDU) von "Schuld" auf Seiten der Verantwortlichen.
Justizminister Heiko Maas (SPD) meinte, nach dem Auffinden der toten NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am 4. November 2011 in einem ausgebrannten Wohnwagen in Eisenach sei man "fassungslos" gewesen wegen der Brutalität bei den zehn Morden und wegen der Unfähigkeit der Behörden, die Bürger vor solchen Taten zu schützen. Högl sah in den Erschießungen und den Sprengstoffattentaten einen "Anschlag auf den Rechtsstaat".
Armin Schuster (CDU/CSU) sprach von einem "Systemversagen", Sein Fraktionskollege Volker Ullrich sagte, man müsse "tiefe Scham" empfinden, dass die Angehörigen der Opfer während der Ermittlungen über viele Jahre hinweg mit Verdächtigungen hätten kämpfen müssen. Für Binninger offenbart das Staatsversagen eine "fatale Unterschätzung" des Rechtsterrorismus. Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) warf den Nachrichtendiensten vor, ein "gefährliches Eigenleben" entwickelt zu haben.
De Maizière führte aus, dass die Umsetzung der fast 50 Forderungen des Untersuchungsausschusses, der vom Bundestag zur Durchleuchtung des NSU-Skandals eingesetzt worden war, "auf Hochtouren läuft". Der Innenminister erwähnte vor allem das Abwehrzentrum gegen Rechtsterrorismus, nannte aber auch Neuerungen bei der Polizeiausbildung und kündigte zudem eine Reform des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) an.
Maas hob besonders hervor, dass die Rolle des Generalbundesanwalts bei Ermittlungen zum Rechtsterrorismus gestärkt werde und dass dessen Experten früher aktiv werden sollen. Man müsse rechtsextremistische Zusammenhänge rechtzeitig erkennen, mahnte der Justizminister.
Pau hingegen monierte, die Anliegen des Untersuchungsausschusses würden noch nicht verwirklicht. Die Linkspolitikerin forderte, "die unsägliche V-Mann-Praxis" zu beenden und die Verfassungsschutzbehörden aufzulösen.
Schuster machte sich indes für eine bessere finanzielle Ausstattung des BfV stark und kritisierte, dass sich die Innenminister von Bund und Ländern noch nicht über Konzepte für länderübergreifende Ermittlungen verständigt hätten.
Binninger wies darauf hin, dass das im Bundestag für die Aufsicht über die Geheimdienste zuständige Parlamentarische Kontrollgremium Konsequenzen aus dem NSU-Debakel gezogen und mit dem Ex-Abgeordneten Jerzy Montag (Bündnis 90/Die Grünen) einen Sonderermittler mit dem Aufrag berufen habe, sich um offene Fragen im Kontext der Mordserie zu kümmern.
Es bringe sie "in Rage", so Pau, wenn Sicherheitsbehörden immer noch versuchten, die Aufklärung des NSU-Skandals zu behindern. So habe der brandenburgische Verfassungsschutz versucht, den Auftritt eines ehemaligen V-Mannes im Münchner NSU-Prozess zu verhindern.
Zwar hätten einige Präsidenten von Verfassungsschutzämtern ihren Hut genommen, sagte Özdemir, doch sei bislang kein Verantwortlicher für Fehler bei den Ermittlungen zu der Mordserie zur Verantwortung gezogen worden.
Mehrere Redner nannten eine Reihe von Beispielen für offene Fragen in der NSU-Affäre. Für Özdemir gehört es ins "Reich der Märchen", dass der NSU nur aus drei Mitgliedern bestanden haben soll: "Laufen draußen noch weitere rechtsextremistische Mörder herum?"
Mihalic assistierte: "Wie können wir sicher sein, dass es nur drei Täter gab?" Özdemir fragte, ob der Verfassungsschutz vielleicht näher am NSU dran gewesen sei als man wisse.
Högl betonte, sie sei nicht überzeugt, dass die in Heilbronn erschossene Polizistin Michèle Kiesewetter ein Zufallsopfer gewesen sein soll. Die SPD-Abgeordnete erwähnte auch den Fall "Corelli": Der ehemalige V-Mann kam just zu dem Zeitpunkt ums Lebens, als er näher zum NSU befragt werden sollte. Pau wies darauf hin, dass beim Verfassungsschutz jahrelang Hinweise zum NSU auf einer CD nicht beachtet worden seien, was erst jetzt bekannt geworden sei.
Für Özoğuz ist bislang ungeklärt, wieso ausgerechnet jene neun Männer mit ausländischen Wurzeln als Opfer ausgewählt wurden, die sterben mussten. Offen sei auch, so die Staatsministerin, wer bei den Hinrichtungen tatsächlich geschossen habe. Die Integrationsbeauftragte: "Wer hat dem NSU-Trio geholfen?" Unbekannt sei zudem, was in dem Wohnwagen in Eisenach geschehen sei, in dem Böhnhardt und Mundlos tot aufgefunden wurden.
Mehrere Redner begrüßten den Untersuchungsausschuss, der am 5. November vom baden-württembergischen Landtag eingesetzt wurde und der sich vor allem der Erschießung der Polizistin Kiesewetter 2007 widmen soll, dem rätselhaftesten Fall der Mordserie. (kos/05.11.2014)