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Experten betonen die Potenziale der Urbanisierung ( „Verstädterung“) für das Vorankommen von Entwicklungs- und Schwellenländern. In einer Anhörung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter Vorsitz von Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) wurden am Mittwoch, 12. November 2014, jedoch auch die Grenzen der Gestaltung und Steuerung von nachhaltigen Urbanisierungsprozessen deutlich. George Deikun von UN-Habitat (Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen) betonte, dass heute etwas mehr als die Hälfte der Menschheit in städtischen Siedlungen lebt und diese Zahl im Jahre 2050 auf 70 Prozent steigen werde. Die größte Herausforderung liege in den spontanen und häufig ungeregelt entstehenden „informellen Siedlungen“. Bereits heute bewohnten rund eine Milliarde Menschen solche Siedlungen und Slums mit häufig nur begrenztem Zugang zu Dienstleistungen, Beschäftigung und politischer Teilhabe.
Mit einer „New Urban Agenda“ schlage UN-Habitat neun Instrumente für eine nachhaltige Stadtentwicklung vor – dazu zählten neben der Entwicklung einer Stadtpolitik auf nationaler Ebene auch die Stärkung der kommunalen Gesetzgebung und Finanzen, die Förderung eines angemessenen Wohnraums für alle Einkommensklassen sowie das Konzept der „durchmischten Stadt“, die weder sozial noch nach Funktionen wie Arbeiten, Wohnen und Verkehr die Stadträume trenne.
Prof. Dr. Christian Schmidt von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich warnte davor, mit solch umfassenden allgemeinverbindlichen Konzepten die konkrete Situation vor Ort zu verfehlen: „Urbanisierung hat viele Gesichter“, sagte Schmidt – dazu zählten die Megacities ebenso wie zunehmende Konzentrationsprozesse an Stadträndern, in kleinen und mittleren Städten und auf dem Land. Nachhaltige Urbanisierung, die insbesondere die ärmere und von Verdrängungsprozessen betroffene Bevölkerung im Blicke nehme, müsse zum einen bei der Stärkung der lokalen Verwaltung ansetzen und zum anderen auf die Selbstorganisationskräfte „informeller Siedlungen“ setzen.
Der Architekt Albert Friedrich Speer nannte die „New Urban Agenda“ einen „Wunschkatalog“, der zwar positive Punkte aufliste, aber an den Realitäten vorbeigehe. Stadtentwicklung habe in Entwicklungsländern selten Priorität, die Frage des Bodeneigentums sei oftmals ungeklärt, die Verwaltungen häufig zentralstaatliche organisiert. Es müsse darum gehen, „spezifische Lösungen“ vor jeweils anderen kulturellen, wirtschaftlichen, klimatischen und geschichtlichen Bedingungen zu finden. Speer machte sich stark für das Modell der kompakten und „durchmischten Stadt“. Nur diese Siedlungsform ermögliche kurze Wege und damit eine Begrenzung des Verkehrs.
Wie wichtig gerade dieser Vorteil auch unter klimapolitischen Gesichtspunkten ist, machte Dr. Clara Brandi vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik mit dem Vergleich von Barcelona und Atlanta mit ihrer Einwohnerzahl von rund fünf Millionen deutlich: Während in der ausgedehnten Südstaaten-Metropole Kohlendioxidemissionen von 7,5 Tonnen auf einen Einwohner pro Jahr entfallen, seien es im dicht besiedelten Barcelona nur 0,7 Tonnen. Als ein wichtiges Instrument nachhaltiger Urbanisierung in Entwicklungsländern nannte Brandi die Stärkung beziehungsweise Schaffung kommunaler Finanzhoheit.
In der häufig fehlenden städtischen Planungs- und Finanzhoheit in Entwicklungs- und Schwellenländern sah auch Prof. Dr. Einhard Schmidt-Kallert (Universität Dortmund) einen Hemmschuh. Er plädierte jedoch auch dafür, sich von der Fokussierung auf „plan making“ zu lösen, von einer rein physischen Planung, die allzu häufig auf die Errichtung von Mittelschichtquartieren hinauslaufe. „Planung müsste viel stärker die Moderatorenrolle übernehmen zwischen formellen und informellen Planungsbeteiligten, auch zwischen verschiedenen Rechtssystemen“.
Zudem gelte es, Stadt und Land nicht als Gegensatz, sondern als Kontinuum zu begreifen: Auf dem Land gebe es zunehmend Industrialisierungsprozesse, in den Städten selbst wiederum Landwirtschaft. Städte würden an den Rändern zerfasern, der Übergang von städtischen zu ländlichen Regionen sei fließend – und damit seien es auch die jeweiligen Lebensstile. Schmidt-Kallert lenkte den Blick auf multilokale Haushalte: Menschen, die in der Stadt arbeiten, aber weiterhin Teil eines ländlichen Haushaltes bleiben würden und auf diese Weise wirtschaftliche Risiken abfedern und minimieren könnten. (ahe/12.11.2014)