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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag:10. November 2014)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Die Grünen-Parlamentarierin Claudia Roth dringt auf eine „humanitäre Offensive“, um die Versorgung syrischer Flüchtlinge in den Anrainerstaaten des Bürgerkriegslandes zu gewährleisten. Dort fehle es den Flüchtlingen „an allem: an festen Unterkünften, Nahrungsmitteln, Kleidung, gesundheitlicher Versorgung, Traumabehandlung“, sagte Roth in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Um die Menschen im Winter vor der Kälte zu schützen, bräuchten sie feste Unterkünfte, die es bisher kaum gebe. Ganz Europa müsse deshalb eine viel massivere Unterstützung leisten. Auch müssten Deutschland und die Europäische Union viel mehr Flüchtlinge aufnehmen, um die Nachbarstaaten Syriens zu entlasten, forderte die Bundestagsvizepräsidentin.
Zugleich warb sie nachdrücklich für eine Kehrtwende in der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik. Das „Dublin-Verfahren“, bei dem ein Flüchtling nur in dem Land Asyl beantragen dürfe, das er zuerst betreten hat, müsse abgeschafft werden. „Es kann nicht sein, dass innerhalb der Europäischen Union nur die Länder mit einer EU-Außengrenze zuständig sind für die Aufnahme von Flüchtlingen“, argumentierte die frühere Grünen-Vorsitzende. Außerdem sollten „humanitäre Visa“ eingeführt werden, „um den Menschen diese oft tödlichen Fluchtwege zu ersparen“. Zudem sollten sich neben Deutschland auch andere EU-Staaten am Resettlement-Programm des UNHCR zur dauerhaften Neuansiedlung von Flüchtlingen beteiligen. Darüber hinaus müsse es „mehr legale Wege nach Europa geben, wie Ausbildungsprogramme und Stipendien“.
Das Interview im Wortlaut:
Frau Roth, Sie sind in den vergangenen Monaten immer wieder die Nachbarstaaten Syriens gereist, in türkisch-syrische Grenzregion, in den Libanon, den Nordirak und nach Jordanien, wohin Millionen Syrer geflohen sind. Welche Gefahren gehen von dieser Situation für die Region aus?
Roth: Wir erleben derzeit eine geradezu monströse humanitäre Katastrophe. Syriens Nachbarländer sind mehr und mehr überfordert. Der Libanon mit 4,2 Millionen Einwohnern hat knapp zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen, die Türkei rund 1,8 Millionen. In Jordanien, einem der drei wasserärmsten Länder der Welt, sind Hunderttausende von Flüchtlingen angekommen. Das kann keine Infrastruktur, kein Staat lange durchhalten. Es droht eine Destabilisierung dieser Staaten, ein Kollaps. Die Gefahr ist ein weiterer Flächenbrand in einer Region, die eh schon brennt.
Die internationale Gemeinschaft hat jüngst auf einer Konferenz in Berlin mehr Hilfe zugesichert. Allein die Bundesregierung will bis 2017 zusätzlich 640 Millionen Euro für die humanitäre Hilfe in der Region zur Verfügung stellen. Reicht das denn?
Roth: Es ist gut, dass die Bundesregierung die humanitäre Hilfe deutlich aufstocken will. Ich glaube aber nicht, dass die Mittel ausreichen. In wenigen Tagen wird in dieser Region Winter herrschen. Um die Menschen vor der Kälte zu schützen, brauchen sie feste Unterkünfte, die es bisher kaum gibt. Nicht nur Deutschland, ganz Europa muss deshalb eine viel massivere Unterstützung leisten. Es wäre eine Bankrotterklärung der Weltgemeinschaft, wenn das Flüchtlingshilfswerk UNHCR bald seine Hilfen für syrische Flüchtlinge reduzieren müsste, weil zu wenig Mittel zur Verfügung stehen.
Was fordern Sie konkret?
Roth: Wir brauchen eine humanitäre Offensive, um die Versorgung der Menschen zu sichern, denn es fehlt an allem: an festen Unterkünften, Nahrungsmitteln, Kleidung, gesundheitlicher Versorgung, Traumabehandlung. Auch müssen Deutschland und die Europäische Union viel mehr Flüchtlinge aufnehmen, um die Nachbarstaaten Syriens zu entlasten.
Deutschland hat schon 20.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen, weit mehr als die meisten anderen europäischen Staaten. Wie soll das funktionieren, wenn es noch mehr werden? Die Kommunen stoßen doch jetzt schon an die Grenzen ihrer Kapazitäten.
Roth: Das stimmt, aber man muss auch die Ursachen dafür sehen. In Deutschland ist man davon ausgegangen, dass wir gar nicht mit Flüchtlingen rechnen müssen wegen des aus meiner Sicht brutal gescheiterten Dublin-Abkommens. Es besagt, dass ein Flüchtling nur in dem Land Asyl beantragen darf, das er zuerst betreten hat. Da wir nun mal keine EU-Außengrenzen haben, haben manche Politiker offenbar geglaubt, dass wir mit einer solchen Situation gar nicht konfrontiert werden. Aber angesichts dieser Katastrophe ist es eine humanitäre Verpflichtung, den Menschen Schutz zu bieten und die Regionen zu entlasten, die schon so viele aufgenommen haben. Wir müssen uns darauf einstellen, dass viel mehr Menschen zu uns kommen. Die Kommunen müssen in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe zu bewältigen.
Ohne die Hilfe des Bundes wird das doch kaum gehen.
Roth: Der Bund muss hier viel mehr Verantwortung übernehmen. Wir müssen schließlich davon ausgehen, dass die Menschen nicht innerhalb kürzester Zeit in ihre Heimat zurückkehren können, sondern hier bleiben werden. Deshalb müssen schnell Mittel für eine erfolgreiche Integration zur Verfügung gestellt werden. Es muss Sprachangebote geben, die Möglichkeit, arbeiten zu gehen, die Schule zu besuchen, eine Ausbildung zu machen. Das ist machbar, ohne unseren Staat allzu sehr zu belasten. Es gibt viele syrische Familien in Deutschland, die ihre Angehörigen gerne bei sich aufnehmen würden. Bisher aber ist die Familienzusammenführung in Deutschland viel zu bürokratisch und restriktiv. Sie muss dringend vereinfacht werden.
Viele Deutsche sind dagegen, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Rechtsextreme Gruppierungen gehen mit der Hetze gegen Flüchtlinge und Asylbewerberheime auf Stimmenfang. Muss die Politik diese Entwicklungen nicht erst nehmen?
Roth: Wir haben tatsächlich seit vielen Jahren in Deutschland ein Problem. Der Antisemitismus, aber auch die Islamophobie wächst und es gibt eine zunehmend negative Stimmung gegen Sinti und Roma. Dagegen müssen wir als demokratische Parteien Stellung beziehen und klar machen, dass wir ein starker Rechtsstaat sind, der Minderheiten schützt, Grundrechte respektiert und in einer Situation wie dieser Menschen in Not Zuflucht bietet. Aber wir haben gleichzeitig auch eine große Solidarität in der Bevölkerung mit Flüchtlingen. Das dürfen wir nicht kleinreden.
Andere EU-Staaten nehmen deutlich weniger Flüchtlinge auf als Deutschland. Um das zu ändern, hat Innenminister Thomas de Maizière eine Quote vorgeschlagen, um die Flüchtlinge fairer auf die 28-EU-Staaten zu verteilen. Wie stehen Sie dazu?
Roth: Ich gebe Herrn de Maizière Recht, wenn er sagt, alle EU-Staaten müssten bereit sein, Flüchtlinge aufzunehmen. Allerdings sollte eine Quote nicht dazu führen, dass wir insgesamt noch weniger Flüchtlinge aufnehmen. Bisher verhalten sich viele EU-Länder und die EU insgesamt absolut unverantwortlich, nicht nur was die mangelnde Aufnahmebereitschaft angeht, sondern auch im Hinblick auf das, was im Mittelmeer passiert. Es ist doch ein Skandal, dass das italienische Rettungsprogramm für Flüchtlinge in Seenot, „Mare nostrum“, eingestellt werden soll, weil die EU nicht bereit war, das Programm mit acht Millionen Euro monatlich zu finanzieren. Damit verspielt die Europäische Union komplett ihre Glaubwürdigkeit. Mit jedem Tag, an dem wir nicht mehr tun, sterben auch unsere gemeinsamen Werte.
Wie sollte denn eine europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik aussehen?
Roth: Das Dublin-Verfahren sollte abgeschafft werden. Es kann nicht sein, dass innerhalb der Europäischen Union nur die Länder mit einer EU-Außengrenze zuständig sind für die Aufnahme von Flüchtlingen. Außerdem sollten wir humanitäre Visa einführen, um den Menschen diese oft tödlichen Fluchtwege zu ersparen. Nicht nur Deutschland, auch andere EU-Staaten sollten sich am Resettlement-Programm des UNHCR zur dauerhaften Neuansiedlung von Flüchtlingen beteiligen und mehr Flüchtlinge aufnehmen. Auch muss es mehr legale Wege nach Europa geben, wie Ausbildungsprogramme und Stipendien.
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