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„Im Steinbruch frieren Kinder in der rostigen Luft“ lautet eine Zeile aus dem „Landschaftsgedicht“, das die damals 13-jährige Zwangsarbeiterin Ruth Klüger über ihre Zeit 1944/45 im Arbeitslager Christianstadt schrieb. Sie wollte damit „diese traumhafte und gestaltlose Öde“, Eindrücke eines Zustands, den „Inbegriff des Arbeitslagers, wie ich es erlebte“, beschreiben. Als Gastrednerin in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus schilderte die heute 84-jährige US-amerikanische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Ruth Klüger am Mittwoch, 27. Januar 2016, ihre Erlebnisse in dem Frauenlager.
Im Alter von zwölf Jahren wurde die gebürtige Wienerin mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Theresienstadt, ein Jahr später nach Auschwitz-Birkenau und dann in das Arbeitslager Christianstadt in der ostbrandenburgischen Niederlausitz (heute Polen), ein Außenlager des niederschlesischen Konzentrationslagers Groß-Rosen, deportiert. Gegen Kriegsende gelang ihr auf einem der „Todesmärsche“ mit ihrer Mutter und einer Pflegeschwester die Flucht nach Niederbayern. Ihr Vater, ein jüdischer Frauenarzt, wurde in Auschwitz ermordet.
Gerade 13 Jahre alt geworden, sei der Winter 1944/45 der kälteste ihres Lebens gewesen und „sicher auch unvergesslich für alle, die ihn damals in Europa erlebten“. Es sei ihr gelungen, sich im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Sommer 1944 in eine Selektion einzuschmuggeln, die arbeitsfähige Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren zum Kriegsdienst auswählte: „Da hatte ich mich in eine Warteschlange gestellt, und auf die Frage des amtierenden SS-Manns mein Alter, damals noch zwölf Jahre, als fünfzehn angegeben, eine sehr unwahrscheinliche Lüge, denn ich war nach fast zwei Jahren Theresienstadt unterernährt und unentwickelt“, so die Schilderung Klügers.
Einem „Zufall von wenigen Minuten und einer gütigen jungen Frau, die ich nur einmal im Leben gesehen habe, verdankte und verdanke ich mein Weiterleben“. Der Rest des Transports von Theresienstadt, mit dem sie gekommen war, sei in den nächsten Tagen vergast worden. „Wir Ausgewählten wurden in Waggons verfrachtet und ins Arbeitslager verschickt.“ Dort wartete Männerarbeit: „Wir haben den Wald gerodet, die Stümpfe schon gefällter Bäume ausgegraben und weggebracht; auch Holz gehackt und Schienen getragen.“ Wozu, erfuhr sie nicht und es interessierte sie auch nicht: „Es liegt im Wesen der Zwangsarbeit, dass die Arbeiter den Sinn ihrer Arbeit entweder nicht kennen oder ihn verabscheuen.“
Manchmal seien einige von ihnen an die Zivilbevölkerung ausgeliehen worden. „Die Dorfbewohner haben uns angestarrt, als seien wir Wilde. Wenn ihnen damals ein Licht aufging, was es mit den zerlumpten Häftlingen im benachbarten Arbeitslager auf sich hatte, so haben sie’s nach Kriegsende verdrängt, denn da wollte niemand gewusst haben, was in den Lagern vor sich ging, noch weniger, dass man im Dorf gelegentlich davon profitiert hatte.“
Die Mehrzahl der Frauen, darunter auch Ruth Klügers Mutter, hätten in einer Munitionsfabrik gearbeitet, zusammen mit verschleppten Franzosen, Männern, die „besser ernährt wurden als wir, weil sie für diese Arbeit besser ausgebildet und daher wertvoller waren. Dafür konnten sie auch besser Sabotage treiben.“ Sklaven- oder Zwangsarbeit habe ihre Tücken, und für die Nazis sei wohl oft weniger dabei herausgesprungen, als sie ursprünglich am Reißbrett errechneten: „Leider immer noch zu viel.“
Zwangsarbeit sei schlimmer als Sklavenarbeit, sagte Klüger, weil der leibeigene Sklave einen Geldwert für seinen Besitzer hat, den dieser verliert, wenn er den Sklaven verhungern oder erfrieren lässt. Die Zwangsarbeiter der Nazis seien wertlos gewesen, die Ausbeuter hätten sich immer noch neue verschaffen können: „Sie hatten ja so viel ,Menschenmaterial‘, wie sie es nannten, dass sie es wortwörtlich verbrennen konnten.“
Die Frauen seien vor allem Hausfrauen gewesen, Menschen der Mittelklasse, um die Jahrhundertwende geboren: „Sie hatten fast nichts zu bieten als ihre beschränkte Geschicklichkeit und die verminderte Körperkraft der Hungernden.“ Klüger ging auch auf „sexuelle Zwangsarbeit“ in manchen Konzentrationslagern ein. Die Frauen seien in ständiger Gefahr gewesen, geschlechtskrank oder schwanger zu werden. Das sei nicht eine „Arbeit“, die man sich freiwillig aussucht.
Die Prostituierten seien später auch nicht als Zwangsarbeiter eingestuft worden, und die Überlebenden hätten keinen Anspruch auf sogenannte Wiedergutmachung gehabt oder einen solchen Anspruch erhoben. „Der Respekt, den man den Überlebenden der Lager - wenn nicht immer, so doch oft - entgegenbrachte, galt für sie nicht.“ Wenn man heute der Zwangsarbeiterinnen von damals gedenke, müsse man sie mit einschließen.
Anfang 1945 sei das Lager Christianstadt aufgelöst und die Häftlinge in das Lager Bergen-Belsen überführt worden. „In den ersten paar Tagen ging der Transport zu Fuß, dann wurde er in einen Zug verladen, wie ich nach dem Krieg erfuhr. Aber da waren wir nicht mehr dabei. Mit ihrer Mutter und ihrer Freundin sei sie am zweiten Abend geflohen – und habe überlebt.
Wenn die deutsche Zivilbevölkerung später beteuert habe, sie hätte nichts über den Massenmord gewusst, so könne man sich darüber streiten, ob das stimmt; doch die massenhafte Ausbeutung durch Zwangsarbeit sei sehr wohl bekannt gewesen, betonte Klüger.
Seither seien zwei oder sogar drei Generationen hier aufgewachsen, und das Land, das vor 80 Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, habe heute den Beifall der Welt gewonnen, „dank seiner geöffneten Grenzen und der Großzügigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind“.
Das sei der Hauptgrund gewesen, warum sie die Einladung angenommen habe, in diesem Rahmen über die früheren Untaten sprechen zu dürfen: „Hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und entsteht, mit dem schlichten und dabei heroischen Wahlwort: Wir schaffen das“, schloss Klüger ihre Rede unter großem Beifall der Zuhörer, die sich erhoben hatten. Lammert dankte ihr für ihre „beeindruckende Rede“
Zuvor hatte Bundestagspräsident Lammert daran erinnert, dass der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus seit 20 Jahren am Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im Bundestag begangen wird. „Wir gedenken all der ermordeten Juden Europas, der Sinti und Roma, der kranken und behinderten Menschen, der Homosexuellen und all derer, denen ihr Recht auf Leben abgesprochen wurde, der Gequälten und Ermordeten.“
Gedacht werde auch an jede, die Widerstand leisteten, die ihr Leben als Andersdenkende verloren, „weil sie anders dachten, weil sie sich nicht beugten und ihre politische Überzeugung, ihre Moral oder ihren Glauben nicht aufgaben“, der Kriegsgefangenen und Deserteure, der „ungezählten zivilen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in ganz Europa“ und in diesem Jahr vor allem auch der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
Die Erwartung, wachsam gegenüber Unmenschlichkeit zu bleiben und sich gegen Ausgrenzung, Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu stellen, gelte ausnahmslos für alle, „die in diesem Land leben wie für diejenigen, die wann und wo auch immer in dieses Land gekommen sind", sagte Lammert unter Beifall.
Lammert nannte die NS-Zwangsarbeit ein Massenphänomen, „vor aller Augen begangenes Verbrechen“. Alle, auch die zivilen Sparten der Wirtschaft, hätten davon profitiert. Zwangsarbeiter hätten für Großkonzerne wie für Handwerker, für Kirchen und städtische Betriebe, im Bergbau wie in Privathaushalten gearbeitet. Allein in Berlin habe es rund 3.000 Sammelunterkünfte für rund eine halbe Million Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gegeben.
Viele Jahre seien vergangen, so der Präsident, bis deutsche Unternehmen, die von Zwangsarbeit profitiert hatten, bereit gewesen seien, Verantwortung zu übernehmen. Die „Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ wurde erst im Jahr 2000 gegründet. „Damals schon kam das für die meisten der ehemaligen Zwangsarbeiter zu spät“, sagte Lammert.
Immerhin hätten an mehr als anderthalb Millionen Menschen aus Russland, Polen, der Ukraine, Weißrussland, den baltischen Staaten, Tschechien und anderen Ländern Entschädigungen aus dem halb staatlich, halb privatwirtschaftlich finanzierten Stiftungsvermögen gezahlt werden können. Mit der 2011 neu gefassten Anerkennungsleistung für einstige Arbeit in den Ghettos und den im Mai 2015 beschlossenen Zahlungen für ehemalige sowjetische Kriegsgefangene hätten weitere Opfer berücksichtigt werden können.
„Wir sind uns der nicht wiedergutzumachenden Tatsache bewusst, dass Zwangsarbeit letztlich ohne Gegenwert blieb“, fügte Lammert hinzu. Entschädigung könne nicht mehr als eine Geste sein, ein Zeichen an die wenigen Überlebenden, „dass wir ihre Qualen nicht vergessen haben und ihre Geschichte ein Teil unserer Geschichte ist“.
Zum Abschluss der Gedenkstunde trug der RIAS-Kammerchor aus Berlin das „Moorsoldaten“-Lied von Johann Esser (1896-1971) und Wolfgang Langhoff (1901-1966) in der Vertonung von Rudi Goguel (1908-1976) vor. (vom/27.01.2016)