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EU und Nato als „Überlebensversicherung“

Unabhängigkeit, Aufbau demokratischer Strukturen, Mitgliedschaft in Europäischer Union und Nato – in den vergangenen 25 Jahren haben Estland, Lettland und Litauen einen grundlegenden Wandel erlebt. Den Transformationsprozess der drei ehemaligen Sowjetrepubliken begleitet hat auch die Deutsch-Baltische Parlamentariergruppe. Seit ihrer ersten Konstituierung kümmert sich die Gruppe um die Kontakte des Bundestags zu den Parlamenten in Riga, Tallinn und Vilnius.

Die baltischen Staaten sind zwar gemessen an ihrer Fläche klein, dennoch ist das Interesse an den deutsch-baltischen Beziehungen im Bundestag groß. Das zeigt auch die vergleichsweise hohe Mitgliederzahl der Parlamentariergruppe: In der laufenden Legislaturperiode engagieren sich darin 37 Bundestagsabgeordnete  – damit gehört die überfraktionell zusammengesetzte Gruppe zu den größeren Parlamentariergruppen im Bundestag.

Imponierendes Freiheitsstreben der Balten

„Mir hat das Freiheitsstreben der Esten, Letten und Litauer immer sehr imponiert – und besonders die zupackende Art, mit der sie in der Vergangenheit ihr Schicksal in die Hand genommen haben“, sagt der CSU-Abgeordnete Alois Karl, seit Anfang 2014 Vorsitzender der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe.

„Die errungenen Freiheiten  haben dort einen solchen Wert, dass die Balten auch wirtschaftliche Krisenzeiten unbeirrt überstanden haben. Das beeindruckt mich.“ Darum habe er gern die Leitung der Gruppe zu übernommen, setzt der Haushalts- und Europapolitiker aus dem oberpfälzischen Wahlkreis Amberg hinzu. Stellvertretende Vorsitzende der Parlamentariergruppe sind René Röspel (SPD), Dr. Axel Troost (Die Linke) und Dr. Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen).

„Baltischer Weg“ hat zum Fall der Mauer beigetragen

Welche Bedeutung die Bewegung für Freiheit und Unabhängigkeit im Baltikum auch für Deutschland gehabt habe, sei vielen hierzulande gar nicht so bewusst, so Alois Karl. „Der ‚Baltische Weg‘ hat zu den Umbrüchen einen Beitrag geleistet, die den Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung erst ermöglicht haben“, sagt er und meint damit die 600 Kilometer lange Menschenkette, die über eine Millionen Esten, Letten und Litauer am 23. August 1989 gebildet hatten, um für ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion (UdSSR) zu demonstrieren.

Zur Würdigung dieses „mutigen, gewaltfreien Protests“ initiierte der Vorsitzende der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe im September 2014 eine Ausstellung und Podiumsdiskussion im Bundestag, an der auch seine Kollegen, die Vorsitzenden der jeweiligen Parlamentariergruppen im estnischen, lettischen und litauischen Parlament, teilnahmen.

Delegationsreise nach Litauen

Der Blick zurück kommt nicht von ungefähr: 2015 jährten sich Unabhängigkeitserklärungen Litauens, Lettlands und Estlands zum 25. Mal. Im März 1990 hatte Litauen die Verfassung der UdSSR formal außer Kraft gesetzt. Im Mai 1990 erklärten sich dann Estland und Lettland nach fast 50 Jahren sowjetischer Besatzung für unabhängig.

Anlass genug für eine Delegation der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe, im Jubiläumsjahr vom 4. bis 7. Oktober 2015 Litauen zu besuchen. Der Auftakt für eine Reihe von weiteren Treffen: „2016 werden wir auch nach Lettland und Estland reisen“, kündigt Karl an. Außerdem werden Parlamentarier aus dem Baltikum in Berlin erwartet. So ist etwa eine Delegation estnischer Abgeordneter Ende Februar im Bundestag zu Gast.

Gespräche mit Regierungsmitgliedern und Parlamentariern

In der litauische Hauptstadt Vilnius wurde die deutsche Delegation, zu der neben dem Vorsitzenden Alois Karl die Abgeordneten Sylvia Pantel, Barbara Woltmann (beide CDU/CSU) und Dr. Dorothee Schlegel (SPD) unter anderem von Vize-Außenminister Neris Germanas empfangen.

Außerdem trafen die Parlamentarier aus Deutschland mit der Präsidentin des litauischen Parlaments, des „Seimas“, Loreta Graužinienė, sowie mit dem Vorsitzenden der Parlamentarischen Gruppe für die Beziehungen mit Deutschland, Kestutis Masiulis, zusammen.

Belastetes Verhältnis der Balten zu Russland

Im Mittelpunkt des Besuchs stand neben europäischen Themen wie der Flüchtlingspolitik vor allem das Verhältnis der baltischen Staaten zu Russland, das seit der Ukraine-Krise und der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim schwer belastet ist.

„In allen Gesprächen, die wir geführt haben, ist deutlich geworden, mit welcher Wachsamkeit die Balten die Politik Russlands beobachten“, sagt Alois Karl. Aufgrund ihrer Geschichte sei dies nur zu verständlich. Zudem gebe es in allen baltischen Staaten eine größere russischstämmige Minderheit, vor allem in Estland. Parallelen zur Ostukraine seien naheliegend.

EU und Nato-Mitgliedschaft als „Überlebensversicherung“

Umso wichtiger sei es, so der Vorsitzende der Parlamentariergruppe, dass das Baltikum die volle Unterstützung der Staatengemeinschaft besitze. „Dass Präsident Barack Obama 2014 ins Baltikum gereist ist und den Balten die Unterstützung der USA zugesichert hat, war für die Menschen dort sehr wichtig“, sagt der CSU-Abgeordnete.

Auch dass Deutschland als Nato-Mitglied vier Kampflugzeuge der Bundeswehr entsendet habe, um den Luftraum über dem Baltikum zu patrouillieren, sei „positiv anerkannt“ worden, versichert Karl. „Die Mitgliedschaft in der EU und in der Nato ist für Estland, Lettland und Litauen nicht nur eine Lebens-, sondern eine Überlebensversicherung.“

Unterschiedlichen Positionen in der Flüchtlingsfrage

Den Kontakt zwischen der Parlamentariergruppe in Deutschland und ihren Partnern im Baltikum bezeichnet der Vorsitzende als eng und freundschaftlich. Daran änderten auch Meinungsverschiedenheiten wie beispielsweise über eine europäische Flüchtlingsquote nichts. Die Litauer seien in der Flüchtlingsfrage sehr „zurückhaltend“, räumt Alois Karl ein.

Tatsächlich gehören alle drei baltischen Staaten zu den schärfsten Kritikern der von der Europäischen Union beschlossenen Umverteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten. Für die deutsche Flüchtlingspolitik gebe es dort wenig Unterstützung, hat der Vorsitzende der Parlamentariergruppe erfahren.

Doch er wirbt um Verständnis für die Haltung der Balten. Sie resultiere auch aus ihrer Geschichte: „Die Menschen haben während der sowjetischen Besatzung schlechte Erfahrungen mit russischen Zuwanderern gemacht, die von der Sowjetunion gezielt angesiedelt wurden, um Kultur und Nationalbewusstsein in Estland, Lettland und Litauen zu unterdrücken.“

Litauens Informations- und Technologiesektor boomt

Trotz solcher Differenzen bleibe Deutschland für die Balten ein wichtiger Partner – nicht zuletzt im Bereich der Wirtschaft. „Deutschland ist einer der größten Handelspartner und Investoren in Litauen“, so Karl. Besonders spannend findet er Litauens derzeit boomenden Informations- und Technologiesektor, der zunehmend ausländische Investoren anziehe. „Das Land ist hier bemerkenswert gut aufgestellt.“

Die Wirtschaft wachse, die Staatsschulden seien gering. Für den Haushälter ist Litauen ein Musterland des Euroraumes: „Auch die Euro-Einführung zum 1. Januar 2015 ist positiv verlaufen. Es gab keine Preissteigerung und auch keine Inflation.“ Den Erfahrungs- und Informationsaustausch zwischen Parlamentariern hält er gerade auch vor dem Hintergrund solcher positiver Entwicklungen für sehr wertvoll: „Jeder kann vom Anderen lernen.“ (sas/29.02.2016)