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**** NACH § 117 GOBT AUTORISIERTE FASSUNG ****
*** bis 10.50 Uhr *** wird fortlaufend aktualisiert ***
Deutscher Bundestag
171. Sitzung
Berlin, Freitag, den 13. Mai 2016
Beginn: 9.00 Uhr
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich zu unserer Plenarsitzung.
Wir beginnen heute mit dem Tagesordnungspunkt 17:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einstufung der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten
Drucksache 18/8039
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)
Drucksache 18/8311
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über den Gesetzentwurf werden wir nach der Debatte namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Das ist offensichtlich unstreitig. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung kennt natürlich auch die kritischen Fragen und Themen, die mit der Menschenrechtslage in Algerien, Marokko und Tunesien verbunden sind. In Algerien sieht das Strafgesetzbuch vor, dass Männer, die ein Mädchen unter 18 Jahren vergewaltigt haben, dann straffrei ausgehen können, wenn sie ihr Opfer heiraten.
In Marokko müssen Aktivisten mit staatlichem Druck rechnen, wenn sie den Anspruch Marokkos auf die Region Westsahara kritisieren. In Tunesien können Männer wegen homosexueller Handlungen strafrechtlich belangt werden. Das wissen wir. Deswegen wird unser Land Menschen aus diesen Herkunftsstaaten auch dann weiterhin Schutz gewähren, wenn ihnen ein individuelles Verfolgungsschicksal droht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das ist unsere Pflicht. Das ist richtig so, und dazu steht die Bundesregierung.
So wichtig und berechtigt das Ansprechen der Probleme ist – das werden wir sicher gleich von der Opposition in der Debatte hören –, so gering allerdings sind die Erfolgsaussichten für Asylanträge von Antragstellern aus diesen Ländern. Warum ist das so? Ein Recht auf Asyl erhält man in Deutschland nicht allein dadurch, dass es in einem Herkunftsland eine sicher kritikwürdige Rechtslage gibt; es muss eine persönliche Verfolgung vorliegen. Die persönliche Verfolgung kann und muss der Antragsteller in seinem Asylverfahren vortragen. So sieht es das Asylrecht vor.
Das Bundesverfassungsgericht stellt hohe Anforderungen an die Bestimmung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat. Es räumt dem Gesetzgeber jedoch einen breiten Entscheidungs- und Beurteilungsspielraum für die Bestimmung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat ein. Davon hat der Gesetzgeber auch schon bei zwei afrikanischen Staaten Gebrauch gemacht. Im Fall Ghana hat das Verfassungsgericht diese Einstufung überprüft und bestätigt.
Artikel 16 a Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz lautet:
Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.
Gegenstand dieser Vermutung ist nicht, dass einem Ausländer aus einem sicheren Herkunftsstaat dort keine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung droht. Es wird allein vermutet, dass ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht politisch verfolgt wird.
Die von der Opposition vorgetragenen und sicher gleich noch zu hörenden Argumente zur Menschenrechtslage in den Maghreb-Staaten werden und wurden berücksichtigt. Durch die abstrakte Androhung der Todesstrafe und die abstrakte Strafbarkeit von Homosexualität allein ergeben sich jedoch kein Asylgrund und auch kein Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Das ist ein Grundprinzip unseres Asylrechts, und an diesem Prinzip werden wir auch festhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Zweiter Punkt – und der ist entscheidend –: Antragsteller aus diesen Ländern werden in der Regel nicht politisch verfolgt. Das belegen die Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge im gesamten Jahr 2015, und das belegen auch die Entscheidungen in den ersten Monaten dieses Jahres. Seit Februar werden die Anträge von Menschen aus diesen Staaten vorrangig bearbeitet. Die ohnehin niedrige Gesamtschutzquote hat sich noch einmal gesenkt. 2015 betrug sie noch 2,1 Prozent. Im ersten Quartal dieses Jahres ist sie auf 0,7 Prozent gefallen. Daraus kann man schließen: Es werden auch solche Vermutungen widerlegt. Es gibt also Fälle, in denen Asyl gewährt wird. Aber über 99 Prozent der Antragsteller aus diesen Staaten wurde im Jahr 2016 kein Recht auf Asyl gewährt.
Mit diesem Gesetz werden wir also den Zeitaufwand straffen, der mit der Prüfung dieser Anträge verbunden ist, und an die tatsächlichen Erfolgsaussichten anpassen. Das machen wir auch, um die Anreize zu senken, hier einen erfolglosen Asylantrag zu stellen, weil man in dieser Zeit vielleicht kostenlos untergebracht wird oder weil die Leistungen hier besser sind als die Lebensbedingungen im Herkunftsland.
Das Bundesamt, aber auch die Länder und die Ausländerbehörden treffen immer wieder auf mangelnde Mitwirkungsbereitschaft von Staatsangehörigen aus diesen Staaten. Viele Asylsuchende aus diesen Ländern lassen sich mehrfach registrieren, stellen aber keinen Asylantrag oder erscheinen einfach nicht zu Anhörungsterminen. Die Zahl der Registrierungen in den letzten 15 Monaten war viermal so hoch wie die Zahl der Asylanträge. Diese Differenz ist im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten ganz besonders hoch.
Mit den besonderen Aufnahmeeinrichtungen, die wir mit dem Asylpaket II geschaffen haben, der damit verbundenen Residenzpflicht und der deshalb möglichen schnelleren Rückführung beheben wir viele Mängel des bisherigen Asylverfahrens. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt, um unser Asylsystem effizienter zu machen.
Deutschland wird seiner humanitären Verantwortung gerecht, auch mit diesem Gesetz. Wer die Voraussetzungen für das Recht auf Asyl erfüllt, kann bleiben. Wer die Voraussetzungen nicht erfüllt, soll unser Land wieder verlassen. So einfach ist das. Am besten kommt er gar nicht erst, wenn von vornherein klar ist, dass er höchstwahrscheinlich zurückkehren muss.
Zum Helfenkönnen gehört auch, Nein sagen zu können, nämlich dort, wo keine humanitäre Hilfe gebraucht wird.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das ist legitim. Das zu sagen, ist fair und ehrlich.
Schon die Diskussion über die Einführung des Gesetzes im Januar hat im Februar zu einem spürbaren Rückgang bei den Neuzugängen aus diesen Ländern geführt. Waren es im Januar noch deutlich über 3 000 Neuzugänge, so verzeichneten wir im Februar nur noch etwa 600. Daraus sollte man aber nicht den Schluss ziehen, dass dieses Gesetz nun nicht mehr erforderlich ist, im Gegenteil. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir haben viele Gesetze leider – das gilt erst recht im Asylrecht – unter dem Druck der Ereignisse beschlossen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir ohne den Druck der Ereignisse, vorbeugend und ohne politischen Streit solche gesetzgeberischen Entscheidungen treffen würden, damit der Druck der Ereignisse erst gar nicht entsteht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir stehen in engem Kontakt mit den Regierungen von Tunesien, Marokko und Algerien, um unsere Zusammenarbeit auch beim Thema Rückführung zu verbessern. Die Staaten selbst wollen übrigens, dass ihre Länder als sichere Herkunftsländer eingestuft werden.
(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann ich mir gut vorstellen! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie Putin fragen, sagt er auch Ja!)
Sie sollten sich einmal in die Lage des Landes Tunesien versetzen. Ich habe in letzter Zeit Tunesien dreimal besucht. Es handelt sich hier um eine fragile, sich entwickelnde Demokratie. Dann hören die dort lebenden Menschen aus Europa und insbesondere aus Deutschland, dass es sich bei diesem Staat um kein sicheres Herkunftsland handelt. Das ist für viele, die für Demokratie kämpfen, eine Beleidigung ihrer Anstrengungen in der letzten Zeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist umgekehrt! – Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Bei meiner Reise Ende März haben wir Vereinbarungen über Möglichkeiten der Rückführungen erzielt. Die ersten Rückführungen sind erfolgt, und sie werden weitergehen. Wir setzen weiter auf die Hilfsbereitschaft gegenüber verfolgten Menschen, aber eben auch auf eine Begrenzung des Zuzugs von den Menschen, die keines Schutzes bedürfen.
Wir nutzen jetzt – das ist meine abschließende Bemerkung – gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und der ganzen Bevölkerung die Gelegenheit, uns auf die Integration derer zu konzentrieren, die eine gute Bleibeperspektive haben, gerade auch weil die Zahl derer, die kommen, zurückgegangen ist. Wir werden diese Ziele mit dem Integrationsgesetz verfolgen. Fördern und Fordern werden hier die Prinzipien sein.
Die Eckpunkte sind bekannt: Sprachkurse, Orientierungskurse, Arbeitsgelegenheiten, Arbeitsangebote, Bleibeperspektive während der Ausbildung genauso wie Wohnsitzzuweisung für anerkannte Flüchtlinge, solange sie noch keine Arbeit haben, Verpflichtung zu Integrationsleistungen, Ermöglichung der Leiharbeit für Geduldete und eine Bindung des dauerhaften Aufenthalts an die bisher erbrachten Integrationsleistungen. Fördern und Fordern – beides gehört zusammen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf werden wir im Kabinett hoffentlich – vermutlich – noch im Mai beschließen und dann hier baldmöglichst beraten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Mit dem heutigen Gesetzentwurf verfolgt die Bundesregierung einen konsequenten Kurs: Schutz für die, die Schutz brauchen, und rasche Beendigung des Aufenthalts in Deutschland für die, die keinen Schutz brauchen, und zwar insbesondere für diejenigen aus den sicheren Herkunftsstaaten. Das sind klare Ansagen nach innen und nach außen.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die Fraktion Die Linke erhält die Kollegin Ulla Jelpke das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Innenminister, Sie haben eigentlich am Anfang Ihrer Rede all die Argumente gebracht, warum Algerien, Marokko und Tunesien nicht als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden dürfen; denn Sie haben im Grunde genommen bestätigt, dass es in diesen Ländern erhebliche Menschenrechtsverletzungen gibt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Da haben Sie aber nicht zugehört!)
Deswegen sagen wir hier auch ganz klar: Das Asylrecht darf nicht eingeschränkt werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Schutzsuchende haben das volle Recht auf Asyl!
(Michael Frieser [CDU/CSU]: Haben sie ja trotzdem!)
Was bedeutet es denn, wenn diese drei Staaten als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden? Das bedeutet, dass die Asylsuchenden von dort aus Sicht hiesiger Behörden einen unbegründeten Asylantrag stellen, und zwar alle. Das bedeutet, dass sie in Sonderlagern untergebracht werden, dass sie einer verschärften Residenzpflicht unterliegen, dass sie von allen möglichen Integrationsmaßnahmen, die von Anfang an nötig wären, ausgeschlossen sind. Dieses Recht auf ein faires Asylverfahren, der Anspruch auf eine individuelle Beurteilung muss weiterhin voll anerkannt werden. Wir lehnen ein Asylrecht zweiter Klasse grundsätzlich ab.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aus den Berichten von Amnesty International und dem Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, UNHCR, die der Bundesregierung vorliegen, geht eindeutig hervor, wie weitgehend diese Menschenrechtsverletzungen in den Maghreb-Staaten sind. An vielen Einzelbeispielen wird das dort beschrieben. Diese Organisationen lehnen es ebenfalls ab, dass wir bei diesen Ländern von sicheren Herkunftsstaaten reden.
In allen drei Ländern gibt es schwere Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel die Verletzung von Frauenrechten. Sie selber haben eben das Beispiel genannt. Wenn eine Minderjährige vergewaltigt wird und der Vergewaltiger sie heiratet, geht er straffrei aus. Das ist doch ein Skandal. Stellen Sie sich das einmal vor!
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit werden dort missachtet. Ich nenne weiterhin die Homosexuellenverfolgung. Homosexuelle müssen nach wie vor mit Strafverfolgung und Inhaftierung bis zu drei Jahren rechnen. Nicht zu vergessen: In allen Ländern wird gefoltert. In Marokko gibt es nicht die Unschuldsvermutung. Wer nicht geständig ist, kann nicht vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Also wird häufig ein Geständnis durch Folter erzwungen, damit eine Verurteilung stattfinden kann. Auch das sind Skandale.
Wer zum Beispiel die völkerrechtswidrige Besatzung in der Westsahara in Marokko kritisiert, muss damit rechnen, inhaftiert zu werden. In Tunesien hat es mehrere Fälle gegeben, wo Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden beispielsweise auf protestierende Arbeitslose, auf Menschen, die für ihre Rechte eingetreten sind, geschossen haben. Auch in anderer Form sind dort Menschenrechte verletzt worden.
All das sind relevante Asylgründe. Beispielsweise der Jurist Reinhard Marx, aber auch Amnesty International haben in der Anhörung sehr deutlich gemacht, dass es überhaupt keinen Grund gibt, diese Länder als sicher einzustufen. Auch wenn es sich nur um wenige Fälle und um keine Systematik handeln sollte, wie Sie sagen, ist das schon asylrelevant, und das darf nicht dazu führen, dass man diese Länder als sicher einstuft.
Die Bundesregierung, aber auch wir hier im Parlament haben – das hat uns das Bundesverfassungsgericht ins Stammbuch geschrieben – eine besondere Sorgfaltspflicht, zu prüfen, ob es Menschenrechtsverletzungen gibt. Hier ist nicht die Rede von Systematik. Es reicht, dass Gruppen diskriminiert oder verfolgt werden. Diskriminierung oder Verfolgung muss nicht die Masse der Menschen betreffen, die in diesen Ländern leben.
Im Übrigen hat die Bundesregierung in der Begründung zum Gesetzentwurf nicht dargelegt, welche Stellungnahmen von welchen NGOs inwiefern berücksichtigt wurden. Zum Beispiel sagen die Kirchen, Pro Asyl, das Deutsche Institut für Menschenrechte und Amnesty International – deren Vertreter waren zur Sachverständigenanhörung eingeladen – Nein zur Einstufung dieser Länder als sichere Herkunftsstaaten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Dass so wenige kämen – das ist Ihr Argument, das Sie immer wieder vorbringen –, hat das Bundesverfassungsgericht lediglich als ein Indiz bezeichnet, aber nicht als einen wirklichen Handlungsgrund, Staaten als sicher einzustufen.
Das entscheidende Kriterium für eine solche Einstufung als sicherer Herkunftsstaat – Sie stellen ja immer wieder darauf ab, es kämen so wenige – ist vor allen Dingen die Lage dort in den Ländern. Entscheidend ist vor allem, ob die Menschen dort sicher sind vor Verfolgung, Folter und Diskriminierung. Genau das ist nicht gewährleistet. Deswegen fordern wir, dass es keine weiteren Einschnitte in das Grundrecht auf Asyl gibt.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, Sie müssen nun zum Schluss kommen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Ja. – Zum Schluss möchte ich einfach sagen: Wer diese Länder als sicher einstuft, ermutigt auch ihre Regierungen, weiterhin diese Menschenrechtsverletzungen zu praktizieren. Schon deswegen muss man ganz klar sagen: Nein, Menschenrechtsverletzungen der Art, wie sie hier vorgetragen wurden, können von uns nicht akzeptiert und nicht auch noch belohnt werden, indem man diese Länder als sicher einstuft.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Burkhard Lischka ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Burkhard Lischka (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stufen heute Tunesien, Marokko und Algerien als sichere Herkunftsstaaten ein, und zwar nicht, Frau Jelpke, um das Asylrecht zu schwächen, sondern um es zu stärken.
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Schnellverfahren sind keine Stärkung! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na!)
Unser Asylrecht soll all diejenigen schützen, die in ihren Heimatländern politisch verfolgt werden oder vor Krieg und Tod fliehen. In den Ländern Tunesien, Marokko und Algerien ist das eben nicht der Fall.
Die Einwanderung aus diesen Staaten erfolgt gerade nicht überwiegend als Flucht vor Krieg und politischer Verfolgung. Bei über 99 Prozent der Menschen, die von dort kommen, ist die Motivlage eine vollkommen andere, zum Beispiel der Wunsch nach einem besseren Leben. Das halte ich für menschlich verständlich; aber es ist eben kein Asylgrund, und zwar nirgendwo auf der Welt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Die wenigen, die von dort kommen, weil sie verfolgt oder diskriminiert werden, haben auch in Zukunft die Möglichkeit, Asyl hier in Deutschland zu bekommen. Daran ändert auch die Einstufung als sichere Herkunftsländer überhaupt nichts.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Aber für die übergroße Mehrzahl von 99 Prozent derjenigen, die aus den Maghreb-Staaten kommen, bedeutet diese Einstufung zügigere Verfahren. Die Ressourcen, die dadurch freigesetzt werden, kommen wiederum Menschen zugute, die aus Heimatländern fliehen, in denen sie tatsächlich, und zwar massenhaft, von Kriegshandlungen bedroht sind. Deswegen sage ich ganz deutlich – gerade auch an die Adresse der Opposition –: Wer in Deutschland auch in Zukunft zahlreiche politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge aufnehmen will, der kann daneben nicht auch noch unbegrenzt Menschen aufnehmen, die aus ganz anderen Motiven kommen.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch nicht! – Gegenrufe von der CDU/CSU: Doch, darum geht es!)
Wer die Aufnahmebereitschaft in unserem Land, Herr Beck, für Flüchtlinge erhalten will, der sollte sie nicht überstrapazieren.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich finde, Begrenzungen und klare Regeln helfen, hier Akzeptanz zu erhalten.
Herr Beck, wenn wir Demokraten solche klaren Grenzen nicht ziehen, dann überlassen wir das Feld tatsächlich den Rechtspopulisten und den Fremdenfeinden. Insofern ist natürlich Politik immer auch ein Ringen um Kompromisse zwischen dem, was vielleicht wünschenswert ist, und dem, was machbar ist. Vor diesem Hintergrund ist dieser Gesetzentwurf – so meine ich – ein ausgewogener, aber eben auch ein notwendiger Kompromiss.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jetzt sollten wir uns vor allen Dingen an die Arbeit machen, um uns um die Menschen zu kümmern, die in unserem Land sind, weil sie vor Krieg und Verfolgung geflohen sind. Herr de Maizière, Sie haben das Integrationsgesetz angesprochen. Jetzt müssen wir unsere Kraft darauf konzentrieren, dass wir aus diesen Flüchtlingen Mitschüler und Arbeitskollegen machen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Darauf sollten wir unsere Energie verwenden, Herr Beck.
Recht herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Kollegin Amtsberg hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass das Mittel der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten mittlerweile nur noch innenpolitisch von Interesse ist oder auch nur noch innenpolitisch begründet wird, ist aus den Redebeiträgen der regierungstragenden Fraktionen hervorgegangen.
(Michael Frieser [CDU/CSU]: Das ist Quatsch!)
Als wir damals in diesem Kontext über die Sicherheit von Menschen auf dem Westbalkan gesprochen haben, wurde immer wieder behauptet, es gebe keine systematische, keine staatliche Verfolgung. Die Diskriminierungen von Roma seien Einzelfälle, die vor allen Dingen aus der Gesellschaft kämen, eben nicht staatlicherseits betrieben würden.
Dazu hatte meine Fraktion damals schon eine grundlegend andere Auffassung. Aber immerhin gab es hier eine Auseinandersetzung darüber, was Mehrfachdiskriminierung bedeutet, ob sich aus dieser auch ein Schutzanspruch oder das Recht auf Asyl ableitet. Diese Mühe machen Sie sich jetzt bei dieser Frage gar nicht mehr, liebe Kolleginnen und Kollegen und Sie, Herr Innenminister. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf über die vielen Menschenrechtsverletzungen und über Verfolgungen, kommen aber nicht zu dem richtigen Schluss. Kurzum, Sie erkennen, dass es diese Menschenrechtsverletzungen gibt, und trotzdem wollen Sie die Einstufung, weil es eben nicht um die Wahrung der Menschenrechte vor Ort geht, sondern rein um Innenpolitik. Das halten wir für falsch.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Menschenrechte sind nicht relativierbar. Wenn Verletzungen der Menschenwürde erkannt werden, dann müssen sie eben auch bekämpft werden und dürfen nicht totgeschwiegen werden. Herr Innenminister, eine abstrakte Androhung der Todesstrafe, eine abstrakte Verfolgung von Homosexuellen? Da kann man wirklich nur sagen: Abstrakt ist das vielleicht für uns hier, wenn wir von außen darauf gucken, aber doch nicht für die Menschen, die vor Ort leben und in dieser Situation bestehen müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Immer wieder rechtfertigen Sie diesen Gesetzentwurf damit, dass durch ihn eine schnellere Abschiebung und eine schnellere Ablehnung gewährleistet werden sollen. Diese Argumentation ist extrem unehrlich; denn bereits jetzt gibt es die Möglichkeit, diese Staaten zu priorisieren, Anträge schneller zu bearbeiten, ohne diese scharfe Klinge anzusetzen.
(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Genau das ist es, was wir hier an dieser Stelle kritisieren. Denn es hat eben den Nachteil, dass man den Regierungen im Maghreb damit das Gefühl vermittelt, diese Menschenrechtsverletzungen, die vielen Defizite, die wir erkennen und sogar in der Gesetzesbegründung aufführen, seien in Ordnung. Das können wir so nicht machen. So funktioniert keine Menschenrechtspolitik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
In allen drei Ländern wird die Meinungs- und Pressefreiheit sicherlich in einem unterschiedlichen Maße, aber in vielen Fällen in schwerwiegender und unverhältnismäßiger Weise verletzt. In keinem der Staaten ist die Justiz tatsächlich unabhängig. Verletzungen des Folterverbots sind in allen drei Staaten generell und durchgängig verbreitet. Frauen und Mädchen sind in den drei Staaten nur unzureichend vor Vergewaltigung geschützt. Sexuelle Gewalt wird nicht ausreichend strafrechtlich verfolgt. In Algerien und Tunesien – darauf wurde schon hingewiesen – ist Vergewaltigung weiterhin nicht strafrechtlich zu ahnden, wenn der Vergewaltiger das Opfer heiratet. Diesem Umgang mit Frauen wird mit der Einstufung der drei Staaten als sichere Herkunftsstaaten ein Gütesiegel aufgedrückt. Das ist doch nicht das, was wir uns in der Vergangenheit gerade in diesem Kontext von Frauenrechten, von Schutz von Frauen in diesen Ländern gewünscht haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Da müssen wir doch viel schärfer hingucken und sagen: Mit diesen Menschenrechtsverletzungen können wir nicht leben, und wir verstehen es, wenn Menschen aus diesen Ländern aus diesen Gründen fliehen.
Weil in der Debatte hier immer wieder kommt, dass weiterhin sozusagen eine individuelle Prüfung möglich ist, muss ich noch einmal sagen: Wenn man von der Grundvermutung ausgeht: „Es liegt keine Verfolgung vor“, dann wird es in der Praxis schwieriger – da können Sie jeden einzelnen Menschen fragen, der davon betroffen ist –, die Verfolgung nachzuweisen, glaubhaft zu machen. Man muss sich in die Menschen hineinversetzen, die keine Erfahrung damit haben, über ihr Schicksal, über die Erfahrungen, die sie in ihren Ländern gemacht haben, offen zu reden, diese zur Disposition zu stellen und darüber zu argumentieren. Sie müssen am Ende Menschen davon überzeugen, dass ihnen das tatsächlich passiert ist. Das ist die Realität, mit der wir uns auseinandersetzen wollen.
Am Ende des Tages ist die Einstufung als sichere Herkunftsstaaten mit genau diesem Vorwurf belastet, nämlich dass wir nicht genau prüfen, dass wir für diese Länder eine Vorvermutung haben und dass wir es nicht schaffen, die wenigen Fälle, in denen wirklich Verfolgung vorliegt, herauszufiltern, weil wir einen Deckel draufschieben und sagen: Da liegt eigentlich keine Verfolgung vor. – Man muss deutlicher und intensiver prüfen und mit weniger Vorverurteilungen arbeiten. Nur so kann man diese Menschen ausfindig machen und ihnen hier in Deutschland helfen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Unsere Position dazu ist klar – wir haben sie in der Vergangenheit schon häufiger deutlich gemacht –: Wir glauben nicht, dass sichere Herkunftsstaaten zu sicheren Ländern werden, nur weil man sie als solche labelt. Man muss harte Menschenrechtsarbeit vor Ort leisten, und das ist die Aufgabe, die wir zu erledigen haben und der Sie leider nicht gerecht werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Nina Warken für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Nina Warken (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute schon zum wiederholten Mal über das Thema „sichere Herkunftsstaaten“, und es ist immer dieselbe Kritik, die hier vorgetragen wird; die Argumente sind genannt. Klar ist auch, dass einige Kolleginnen und Kollegen das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten grundsätzlich ablehnen; das ist auch jetzt wieder klar geworden. Ich möchte gern noch einmal die Gelegenheit nutzen, um mit den wesentlichen Vorwürfen aufzuräumen.
Erstens. Die Einstufung als sicheres Herkunftsland ist keine Maßnahme, um Schutzsuchende ungerecht zu behandeln oder um zu verhindern, dass sie in Deutschland Schutz suchen. Im Gegenteil: Die Einstufung als sichere Herkunftsstaaten ist vielmehr eines der wenigen Instrumente, die wir auf nationaler Ebene haben, um gegen Asylmissbrauch und gegen illegale Migration vorzugehen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Zahlen zeigen eindeutig, dass von den vielen Menschen, die aus den Maghreb-Staaten zu uns gekommen sind, nur ganz wenige wirklich schutzbedürftig sind. Von den rund 2 600 Asylanträgen, über die das BAMF 2015 entschieden hat, wurden nur ganze 41 positiv beschieden. Die Gerichte bestätigen uns, dass nur in ganz wenigen Einzelfällen ein Schutzbedarf besteht. Nur in 7 von über 700 Gerichtsentscheidungen wurde das BAMF korrigiert.
Doch trotz dieser geringen Anerkennungschancen kamen letztes Jahr rund 26 000 Asylsuchende aus den Maghreb-Staaten, ein Viertel davon allein im Dezember. Alles spricht dafür, dass dieser Zustrom in Wirklichkeit nichts mit Verfolgung zu tun hat.
Als Gesetzgeber ist es doch unsere Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen, etwas gegen eine solche Zweckentfremdung unseres Asylsystems zu tun.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD])
Sorgen wir mit der Einstufung dafür, dass die Zahl der unbegründeten Asylanträge aus den Maghreb-Staaten zurückgeht; denn sie gehen zulasten unserer Kommunen und auch zulasten der Menschen, die unseren Schutz wirklich brauchen.
Ich bin mir im Übrigen sicher: Viele der Migranten aus dem Maghreb wissen auch, dass sie nicht schutzbedürftig sind. Viele konnten zum Beispiel nur mithilfe der Polizei dazu gebracht werden, ihren Antrag beim BAMF zu stellen und zur Anhörung zu erscheinen. Häufig wurde auch versucht, durch Mehrfachregistrierungen an unterschiedlichen Orten das Verfahren künstlich in die Länge zu ziehen und zusätzliche Leistungen zu erhalten. Ein solches Verhalten – da geben Sie mir sicher recht – lässt doch an der Ernsthaftigkeit dieser Asylanträge stark zweifeln und zeigt, wie notwendig die Einstufung der Maghreb-Staaten ist.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Aber klar ist auch: Für die wenigen Fälle, in denen tatsächlich ein Schutzgrund besteht, ändert sich mit der Einstufung nichts. Diese Anträge werden auch weiterhin positiv beschieden werden können.
Zweitens, meine Damen und Herren, möchte ich mit einem Irrtum aufräumen: Von der Opposition wird immer wieder behauptet, die Einstufung als sicheres Herkunftsland würde nichts bringen. Lassen Sie mich deshalb den Gegenbeweis antreten: Die Zahl der unbegründeten Asylanträge aus den Balkanstaaten ist nach der Einstufung sehr deutlich zurückgegangen. Die Maßnahmen, die wir mit dem Asylpaket II eingeführt haben wie die Wohnpflicht in einer speziellen Aufnahmeeinrichtung, ein beschleunigtes Verfahren mit zügiger Abschiebung, ein generelles Arbeitsverbot und die Möglichkeit der Verhängung von Wiedereinreisesperren, haben eine deutliche Signalwirkung. Diese brauchen wir auch für die Maghreb-Länder, damit hier der falsche Anreiz wegfällt, aus rein wirtschaftlichen Gründen einen Asylantrag zu stellen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Laut BAMF hat bereits die Tatsache, dass wir über diesen Gesetzentwurf beraten, zu einem Rückgang der Neuzugänge aus dem Maghreb geführt. Während im Januar dieses Jahres noch über 3 000 Menschen kamen, waren es im April nur noch knapp 400. Wir sehen also, dass die Maßnahmen, die wir in der Asylpolitik ergreifen, in den Herkunftsländern sehr genau beobachtet werden. Es wäre deshalb ein großer Fehler, wenn wir bei diesem Gesetz jetzt wanken würden.
Drittens ist es mir sehr wichtig, eine Sache ganz deutlich zu betonen: Deutschland hat sich die Einstufung als sicheres Herkunftsland bei keinem einzigen Staat leicht gemacht. Wir haben letztes Jahr bei den Balkanstaaten genau geprüft, ob die Voraussetzungen für die Einstufung vorliegen. Genauso haben wir das bei Marokko, Tunesien und Algerien getan. Dafür machen das Grundgesetz, das europäische Recht und die Gerichte klare Vorgaben: Der Gesetzgeber muss die Gesamtsituation im Land beurteilen. Keine Bevölkerungsgruppe darf systematisch, generell und durchgängig unterdrückt oder verfolgt werden. Das haben wir getan. Die Gesamtsituation wurde in allen drei Ländern anhand mehrerer Erkenntnisquellen gründlich beurteilt, darunter auch Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie dem UNHCR, Amnesty International oder Human Rights Watch.
Auch in der Sachverständigenanhörung und in der Ausschussberatung haben wir uns über die Lage informiert und diese erörtert. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Schwelle zu einer systematischen und durchgängigen Verletzung schwerwiegender Menschenrechte wird in Marokko, Algerien und Tunesien nicht überschritten. Daran ändern auch die Einzelfälle von Verfolgung, etwa wegen Homosexualität, nichts, auch wenn wir diese natürlich kritisieren. Wir stellen mit der Einstufung – das wurde uns auch immer wieder vorgeworfen – ganz bestimmt keinen Blankoscheck für Menschenrechtsverletzungen in den Maghreb-Staaten aus. In der Anhörung ging es auch darum, die rechtlichen Voraussetzungen und die bei der Bewertung anzulegenden Maßstäbe zu erörtern. Diesbezüglich hat die Anhörung Folgendes erbracht: Der Gesetzgeber hat einen Bewertungsspielraum, welche Erkenntnisquellen er für die Beurteilung heranzieht und wie er die einzelnen Quellen gewichtet. Am Ende muss er sich ein Gesamturteil bezüglich der Umstände im Land bilden. Es geht nicht darum, jeden Einzelfall zu betrachten; denn die Einstufung ist eine gesetzliche Regelvermutung, die explizit Ausnahmen zulässt und die vom Bundesamt und auch von den Gerichten im Einzelfall widerlegt werden kann. Es geht also gerade nicht um eine hundertprozentige Sicherheit, sondern um eine systematische Betrachtung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, anhand all dieser Vorgaben, haben wir sehr sorgfältig geprüft, ob die Voraussetzungen für die Einstufung vorliegen. Ich will auch gar nicht bestreiten, dass es in den Maghreb-Ländern noch viele Probleme gibt, die bewältigt werden müssen. Fest steht aber: Das Asylrecht ist nicht das richtige Instrument, um diese Probleme anzugehen. Und selbst wenn wir wollten, können wir die Probleme in diesen Ländern doch nicht mit dem deutschen Asylrecht lösen. Das ist Aufgabe der Außen- und Entwicklungspolitik.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deutschland tut ja auch eine ganze Menge und hilft den Maghreb-Staaten. Allein im letzten Jahr haben wir rund 700 Millionen Euro für die Entwicklungszusammenarbeit mit Marokko, Algerien und Tunesien bereitgestellt. Diese Mittel wurden für die gezielte Verbesserung der Lebensbedingungen in diesen Ländern eingesetzt, unter anderem für Projekte zur Stärkung von Frauen- und Minderheitenrechten, guter Regierungsführung und der Zivilgesellschaft und für die Aus- und Fortbildung von Polizei und Justiz. Diese Maßnahmen zur Bekämpfung der Fluchtursachen müssen auf europäischer Ebene noch viel stärker gebündelt und intensiviert werden.
Meine Damen und Herren, wenn eifrig kritisiert wird, ist es manchmal wichtig, die Dinge anhand der Fakten noch einmal geradezurücken. Deswegen fasse ich zusammen: Erstens. Die Einstufung der Maghreb-Staaten ist notwendig, um falsche Anreize und die Zahl der unbegründeten Asylanträge aus diesen Ländern zu reduzieren und um unsere Kommunen zu entlasten. Zweitens. Die Einstufung bedeutet nicht, dass keine Asylanträge aus diesen Ländern gestellt werden können. Drittens. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Einstufung wurden sorgfältig geprüft und liegen vor.
Lassen wir uns deshalb nicht von der Opposition mit ihrer Kritik in die Irre führen, sondern stimmen dem Gesetzentwurf mit breiter Mehrheit zu.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Andrej Hunko ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Andrej Hunko (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Innenminister! Der russische Dichter Alexander Puschkin sagte einmal:
Im Prinzip bin ich ja nicht abergläubisch, aber wenn wir heute Freitag den 13. hätten, käme ich doch lieber ein andermal wieder.
Das Gleiche habe ich heute Morgen gedacht, als ich den Gesetzentwurf der Bundesregierung noch einmal gelesen habe. Heute ist ein schwarzer Freitag für das Grundrecht auf Asyl in Deutschland.
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)
Dieser Gesetzentwurf ist eine weitere Verstümmelung des Asylrechts in Deutschland.
(Thomas Oppermann [SPD]: Mein Gott, geht es nicht eine Nummer kleiner?)
Herr de Maizière, Sie haben die Menschenrechtsverletzungen in Algerien, Marokko und Tunesien angesprochen, die es offensichtlich gibt. Ich frage mich: Welche Signalwirkung geht in diesen Ländern von der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat aus? Ich glaube, dass diejenigen, die dort für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, sagen werden: Wir sind jetzt ein sicherer Herkunftsstaat. Der Druck ist sozusagen weg. Wir können noch weiter Homosexuelle zum Beispiel in Gefängnissen foltern oder Anhänger der Saharauis in der Westsahara in Marokko. Das ist ein falsches Signal für die Länder.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zahlreiche Organisationen – Amnesty International, das Deutsche Institut für Menschenrechte, Pro Asyl, der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, auch die beiden großen Kirchen – haben sehr deutlich gesagt, dass sie diesen Gesetzentwurf ablehnen. Sie legen doch so viel Wert auf die Zivilgesellschaft, auch in anderen Ländern. Hier ignorieren Sie vollständig die Einschätzungen der von mir genannten Organisationen. Ich finde das arrogant. Ich frage die Bundesregierung: Warum hören Sie nicht auf diese Organisationen? Diese sagen klar: Sie verletzen hier Ihre Sorgfaltspflicht.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ein Wort an die Grünen: Ich habe die Rede sehr wohl gehört. Ich teile auch die Punkte. Wir haben hier im Bundestag die missliche Situation: 80 Prozent Regierung, 20 Prozent Opposition.
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Der Wähler hat entschieden! – Sebastian Hartmann [SPD]: Das ist ganz in Ordnung!)
Wir diskutieren hier. Es steht ohnehin alles fest. Aber im Bundesrat hätten wir die Möglichkeit, mit Linken und Grünen dieses Gesetz zu stoppen,
(Beifall bei der LINKEN)
weil die Stimmen nicht ausreichen, wenn sich die Regierungen, an denen Grüne und Linke beteiligt sind, am Ende enthalten, können wir das Gesetz stoppen. Ich glaube, es wird wichtig sein, sehr genau hinzuschauen, wie der Bundesrat am Ende im Juni entscheidet. Lasst uns gemeinsam dieses Gesetz stoppen. Es ist ein unwürdiges Gesetz. Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ist Teil dieses schäbigen, so genannten Asylkompromisses von 1993. Dieses Konzept ist ein falsches Konzept. Wir lehnen es grundsätzlich ab.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile dem Kollegen Sebastian Hartmann für die SPD-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Frieser [CDU/CSU])
Sebastian Hartmann (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist und bleibt ein weltoffenes Land, das wie kein anderes in Europa international geachtet wird und seine internationale Verantwortung gerade auch in Krisenzeiten vorbildlich wahrnimmt. Daran wird auch die Einstufung dreier Staaten als sichere Herkunftsstaaten nichts ändern, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Frieser [CDU/CSU])
Reden wir nicht drum herum: Natürlich ist das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten umstritten. Auch in der SPD-Fraktion haben wir darum gerungen und darüber diskutiert, ob man diese Einstufung vornehmen kann. Wir haben im Innenausschuss beraten. Wir haben eine Anhörung durchgeführt. Aber wir werden heute diesem Gesetzentwurf zustimmen, weil wir verschiedene gute Gründe dafür haben.
Wichtig ist vor allen Dingen, dass man zwischen zwei Gruppen unterscheiden muss. Wir wollen ein effektives, ein effizientes Asylsystem – effektiv, weil wir das Asylrecht dem zuweisen, der es wirklich verdient, der als Flüchtling, als Asylsuchender darauf angewiesen ist, in unserem Rechtsstaat Asyl zu erhalten. Und er wird weiterhin Asyl erhalten. Davon zu unterscheiden ist derjenige, der dieses System nutzt, um ein Bleiberecht zu konstruieren, obwohl er eigentlich ein anderes Rechtssystem bräuchte, vielleicht aber auch ganz andere Gründe hat. Der wird – auch unabhängig von der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat – kein Bleiberecht über das Asylrecht konstruieren können. Der Verantwortung, hier zu unterscheiden, müssen wir gemeinsam gerecht werden.
Man muss auch mit einem weiteren Punkt aufräumen. Insofern sage ich – das habe ich auch in erster Lesung gesagt –: Lassen Sie uns doch von mutmaßlich sicheren Herkunftsstaaten sprechen.
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ihr macht doch heute das Gegenteil! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht aber nicht im Grundgesetz! Da steht nicht „mutmaßlich“!)
Es geht nämlich um eine widerlegbare Vermutung der Verfolgungsfreiheit. Es wird nach wie vor darum gehen, zu belegen, dass man verfolgt ist. Das ist genau der Punkt, den wir beachten werden.
Wir haben uns die Punkte, die der Bundesrat eingebracht hat, zu eigen gemacht. Wir haben sie in der Anhörung thematisiert. Es sind bestimmte Gruppen benannt worden – ich benenne sie konkret: die Lesben und Schwulen –, die einer Verfolgung ausgesetzt sind. Wir Deutschen sollten uns die Einstufung da nicht zu einfach machen; denn wir selbst haben unser Strafrecht erst 1994 entsprechend angepasst und sind noch lange nicht am Punkt vollständiger Gleichberechtigung angekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Insofern werden wir das auch nicht schematisch machen. Es ist eine widerlegbare Vermutung.
Wenn wir jetzt über das Verfassungsgerichtsurteil von 1996 sprechen, dann müssen wir es richtig einordnen und einen Unterschied erkennen: Wir haben nun eine veränderte Situation, weil wir im Oktober mit den Änderungen im Asylrecht eine Verfeinerung der Zusammenarbeit zwischen der Regierung auf der einen Seite und dem Parlament auf der anderen Seite vorgenommen haben. Das System der sicheren Herkunftsstaaten ist nicht mehr mit der Rechtslage zu vergleichen, die bestand, bevor wir die Asylverfahren beschleunigt haben. Denn die Liste der sicheren Herkunftsstaaten wird nun einer regelmäßigen Überprüfung unterzogen, das erste Mal schon im Oktober 2017. Die Hürde für die Aufnahme in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten liegt viel höher als die Hürde für die Streichung von dieser Liste; denn die Streichung ist ein einfacher Schritt seitens der Regierung. Es wird ein engeres Monitoring der Menschenrechtslage geben. – Der Innenminister nickt. Das ist genau der Punkt, auf den wir gedrängt haben. Das Signal hinsichtlich der sicheren Herkunftsstaaten ist nun ein anderes; das Streichen von der Liste ist viel schneller geschehen als die Aufnahme in die Liste. Wir können darauf stolz sein, dass wir das als Parlament durchgesetzt haben, auch dank der Anhörung und der Diskussionen im Innenausschuss.
(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Man kann das nicht mehr so schematisch betrachten.
Die SPD hat sich diese Diskussion nicht leicht gemacht. Wir unterscheiden zwischen den Gruppen und legen fest, wer Asyl bekommen muss. Wir wissen angesichts der Zahlen Folgendes – in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen wurde es sehr deutlich –: Es gab über 500 Fälle, in denen Menschen aus den Maghreb-Staaten gar nicht versucht haben, einen Asylantrag zu stellen, die bei der Überprüfung schon gesagt haben, das sei gar nicht der Punkt, den sie erreichen wollten. In diesen Fällen wurde sehr schnell eine Entscheidung gefällt. Es geht um eine Beschleunigung der Asylverfahren für diese Gruppe. Denn alle Menschen in diesem Land verlassen sich darauf – ich sage bewusst: alle Menschen –, dass wir ein effizientes System haben, bei dem schnell klar wird, ob man Recht auf Asyl hat oder nicht. Das gilt für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, aber es gilt auch für die Flüchtlinge, die schnell eine klare Aussage über ihr Bleiberecht und ihre Integrationschancen brauchen. Auch für diese Menschen beschleunigen wir das Asylverfahren;
(Beifall bei der SPD)
um diese Menschen geht es doch auch. Es geht nicht um die Gruppe, die dieses Recht ausnutzen will, obwohl es ihnen nicht zusteht.
Ein weiterer Punkt ist: Ich möchte mich ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Entscheidern des BAMF bedanken. Ich habe hohen Respekt vor den Menschen, die die Aufgabe haben, über Schicksale zu entscheiden. Diesen Punkt haben wir thematisiert. Wir haben gefragt: Wenn wir die Regelvermutung einführen, wie genau prüft ihr, dass keine Verfolgung vorliegt? Wie klärt ihr das mit dem Dolmetschen? Überprüft ihr die medizinischen Angaben? Die Aussagen der Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – das kann man im Protokoll nachlesen – sind sehr eindeutig: Es wird an dieser Stelle keine Verfahrensbeschleunigung geben, sondern eine schnellere Klärung in Gruppen, aber derjenige, der seine Gründe vorträgt, kann nach wie vor sein Schutzrecht beanspruchen.
Ein Indikator in der Debatte über die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat war die Frage: Wie hoch ist die tatsächliche Schutzquote der Menschen, die aus den Maghreb-Staaten kommen? In absoluten Zahlen: 1, 22 oder auch um die 40, wenn wir uns die entschiedenen Fälle im Jahr 2015 anschauen. Aber erst wenn wir wissen, dass die Schutzquote in absoluten Zahlen nicht sinkt, obwohl die Zahl der Einreisen deutlich zurückgegangen ist, weil man nicht mehr den Umweg des Asylantrags gehen muss, wenn man keinen Asylgrund hat, um ein Bleiberecht in Deutschland zu konstruieren, dann haben wir ein Indiz dafür, dass die Einstufung richtig war.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Derjenige, der vorher in der Einstufung war, wird es dann auch bleiben. Das werden wir im Zuge des Monitoring prüfen.
Wir verlassen uns darauf, dass die Bundesregierung den Prozess anders anlegt als bei der Einstufung; denn es ist viel einfacher, von der Liste gestrichen zu werden, als in sie aufgenommen zu werden. Daran werden wir als SPD-Fraktion dieses Verfahren messen. Denn die Einstufung zu einem sicheren Herkunftsstaat ist eine Einstufung auf Widerruf. Das ist der Unterschied bei dieser Änderung des Asylgesetzes. Wir haben das Zug um Zug gemacht.
(Beifall bei der SPD)
Natürlich standen für die SPD-Fraktion auch andere Aspekte im Mittelpunkt, nämlich dass es rechtssichere Verfahren gibt, dass schnelle Entscheidungen getroffen werden und dass denjenigen, die eine Bleibeperspektive haben, ein schneller Zugang zu Integrationsmaßnahmen gewährt wird. Deswegen sagen wir immer: Wir brauchen ein Paket. Wir brauchen ein Integrationsgesetz, aber auch mehr Personal beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, damit mehr Entscheidungen schnell und rechtssicher getroffen werden können. Wir haben eine Überprüfung durch unabhängige Gerichte. Deutschland ist ein Rechtsstaat – Russland ist erwähnt worden –, und wir verlassen uns darauf, dass die Entscheidungen entsprechend überprüft werden.
(Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD])
Wir haben uns die Überprüfungsquoten angesehen. Im Wesentlichen bestätigen sie die Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Das spricht für die Entscheidungsqualität. Auch das werden wir nach der Einstufung zum sicheren Herkunftsstaat weiter überprüfen.
(Beifall bei der SPD)
Unser Fokus liegt klar auf effektiven und effizienten Verfahren. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht, aber wir werden sie heute treffen, weil wir der festen Überzeugung sind: Wir sorgen für eindeutige gesetzgeberische Grundlagen. Das Zusammenspiel zwischen Regierung und Parlament wird weiter verfeinert. Die Listen werden überprüft und gegebenenfalls gekürzt, wenn es sein muss.
In diesem ausführlichen Prozess haben wir uns die Stellungnahme des Bundesrates zu eigen gemacht; denn der Bundesrat muss dem Ganzen auch noch zustimmen. Wir haben seine Rechte besonders betont, auch als Ergänzung zur Gegenäußerung der Bundesregierung. Wir haben gesagt: Genau darauf wollen wir den Fokus richten. Es geht darum, dass Menschen ein Recht auf Asyl haben, wenn sie seiner bedürfen.
Wenn wir als SPD heute zustimmen, dann tun wir das erstens, weil die Vereinbarungen im Paket getroffen wurden und wir das Gesamtkonzept im Blick haben.
Zweitens. Wir erhalten damit ein Mittel zur Verfahrensvereinfachung und Klärung, um den Menschen, die kein Asyl bedürfen, klar zu sagen: Ihr habt keine Chance. Ihr müsst in den Ankunftszentren verbleiben.
Drittens. Zur Debatte über die sicheren Herkunftsstaaten gehört auch, festzustellen: Die Einstufung in sichere Herkunftsstaaten ist kein Allheilmittel. Es reicht nicht aus, die Liste durch weitere Staaten zu ergänzen. Vielmehr muss eine entsprechende Diskussion in den betroffenen Staaten geführt werden, damit die Menschen wissen, welche Chancen sie in Bezug auf das Einwanderungs- oder Asylrecht haben oder eben nicht. Vor allen Dingen – deswegen die Reise des Innenministers in die Maghreb-Staaten – müssen die Rückführungen organisiert werden. Wir haben damit in den jeweiligen Staaten eine entsprechende Debatte ausgelöst.
Viertens. Wir verlassen uns darauf, dass das Monitoring der Bundesregierung weiter verfeinert und den von uns zugrundegelegten Anforderungen gerecht wird.
Fünftens und abschließend. Lassen Sie uns die Vorlage des ersten Berichts der Bundesregierung über die Einstufung der sicheren Herkunftsstaaten im Oktober 2017 abwarten. Lassen Sie uns abwarten, ob das Instrument so wirkt, ob die Schutzquote in absoluten Zahlen nicht sinkt, ob die Zuerkennung nach wie vor rechtssicher erfolgt und ob das Instrument zu einer Verfahrensvereinfachung führt.
(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Menschenrechtslage vor Ort sich bessert? Geht das auch ein?)
Wir müssen an dieser Stelle auch sagen: Ja, wir haben diese Liste ergänzt; aber damit ist es auch gut, weil wir jetzt andere Dinge in den Mittelpunkt rücken müssen, und zwar die Integration und die Entwicklungszusammenarbeit, die bereits angesprochen worden ist. Wir stellen uns ausdrücklich dahinter, weil wir Fluchtursachen vor Ort bekämpfen müssen.
Wir werden als Bund unserer Verantwortung gerecht, wenn wir das Verfahren rechtssicher ergänzen und dafür sorgen, dass auch nach der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten die widerlegbare Vermutung in unserem Rechtsstaat im Einzelfall genutzt werden kann, sodass wir uns nicht zu scheuen brauchen, diesem Gesetzentwurf heute zuzustimmen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Volker Beck bekommt nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns einig hier im Haus: Wir wollen schnelle Verfahren, schnelle Entscheidungen von hoher rechtsstaatlicher Qualität. Aber wir wollen diese Verfahrensbeschleunigung nicht um den Preis falscher menschenrechtlicher Signale und schlechterer Chancen für die Asylrechtsgewährung bei wirklich Verfolgten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten erfolgt nicht im verfassungsrechtlichen Vakuum, sondern dabei sind die Vorgaben des Grundgesetzes und des europäischen Rechts zu beachten. Artikel 16 a Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz sagt: Aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse muss in Ländern, die als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden, gewährleistet sein, „daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet“. – Ich will Ihnen an zwei Beispielen deutlich machen, dass das für diese drei Länder nicht gilt.
Ein Beispiel ist die Westsahara, die seit Jahrzehnten von Marokko besetzt ist. Die Vereinten Nationen sind vor Ort, um den Waffenstillstand zu überwachen. Wir haben der Bundesregierung mehrere Beispiele für Demonstrationen in der Westsahara für die Unabhängigkeit benannt, bei denen die Demonstranten mit brutaler Polizeigewalt zusammengeprügelt wurden. Wir haben die Bundesregierung gefragt, ob sie eine Demonstration seit 1975 benennen kann, bei der das anders abgelaufen ist. Die Bundesregierung musste bekennen, dass es ihr nicht bekannt ist, dass eine Demonstration frei von Gewalt stattgefunden hat. Die Bundesregierung versucht, uns in Sicherheit zu wiegen, indem sie sagt: Bei Saharauis ist der Status der sicheren Herkunftsländer nur dann anzuwenden, wenn sie die marokkanische Staatsangehörigkeit haben. – Das hat man auf die Frage der Kollegin Luise Amtsberg geantwortet. Ja, wie kommt denn ein Saharaui nach Europa? Wenn er nicht durch Mauretanien flieht, muss er durch Marokko. Dazu muss er sich den marokkanischen Pass besorgen, und damit fällt er unter die Regelung der sicheren Herkunftsländer. Es kann doch nicht ernsthaft angenommen werden, dass die Vereinten Nationen in der Westsahara präsent sind, weil es dort keine politische Verfolgung, weil es dort keinen kalten Bürgerkrieg gibt. Wir treten die Menschenrechte mit Füßen, wenn wir diesen Blankoscheck ausstellen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Das, was auf die Betroffenen zukommt, ist keine Petitesse. Es geht um verkürzte Klagefristen, es geht um Beschränkungen im Verfahren, es geht darum, dass man eine Vermutung widerlegen muss, also höhere Beweislasten hat, und nicht nur um die Fragen Lagerzwang, Residenzpflicht und Arbeitsverbot, was integrationspolitisch problematisch ist, weil die Leute im Zweifelsfall eben doch mehrere Monate hier bleiben. Meine Damen und Herren, überlegen Sie sich gut, was Sie an diesem Punkt tun.
Zweitens. Allein ein Blick auf die Situation der Homosexuellen in diesen drei Ländern würde ausreichen, um ihre Einstufung als sichere Herkunftsländer abzulehnen. In allen drei Ländern steht im Strafgesetzbuch explizit, dass gleichgeschlechtliche Handlungen unter Strafe stehen. Das steht nicht nur dort so, sondern das wird auch real angewandt.
Amnesty International hat darauf hingewiesen, dass im Mai und im Juni 2015 in Oujda und Rabat fünf Männer unter anderem wegen unsittlichen Verhaltens und homosexueller Handlungen zu Gefängnisstrafen von bis zu drei Jahren verurteilt wurden. In Tunesien, dem Land, das wir durch Kritik an seiner Menschenrechtslage nicht beleidigen sollen, wie der Minister meint, wurden im Jahr 2015 mehrere Männer wegen homosexueller Handlungen zu Haftstrafen verurteilt. Die Männer wurden vorher gegen ihren Willen anal untersucht; das gilt nach der europäischen Rechtsprechung als Folter und unmenschliche Behandlung. – Das sind keine Petitessen. Herr Minister, das sollten wir nicht kleinreden. Da sollten wir klar sagen: Das verstößt gegen die Menschenrechte, das akzeptieren wir nicht, und das unterstützen wir nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Beck.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Schluss. – Der Europäische Gerichtshof hat 2013 ausdrücklich festgestellt, dass Homosexualität als Verfolgungsgrund gilt, auch wenn man durch verstecktes Leben Verfolgungshandlungen womöglich minimieren oder abwenden kann. Man kann von Homosexuellen genauso wenig wie von Christen verlangen, dass sie ihre Identität verheimlichen. Wenn sie wegen ihrer Identität verfolgt werden, haben sie Anspruch auf Schutz.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Dass Sie von der Bundesregierung in Ihrer Gegenäußerung beim Thema Algerien das den Menschen nahelegen –
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Beck.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
– und dass das BAMF jüngst in einem Einzelfall bei einem Syrer mit solch einer Begründung ablehnend entschieden hat, zeigt, dass wir ein Rollback beim Thema „homosexuelle Flüchtlinge und deren Schutz“ haben.
Meine Damen und Herren von der SPD, machen Sie keine Veranstaltung zu Aktionsplänen gegen Homophobie, sondern stimmen Sie gegen diesen Gesetzentwurf. Dann tun Sie etwas gegen Homophobie. Das wäre glaubwürdig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun erhält der Kollege Michael Frieser das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Michael Frieser (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht in keiner Weise darum, Menschenrechtsverletzungen kleinzureden. Das Gegenteil ist der Fall. Wer ein treffsicheres, ein funktionsfähiges, ein an Menschenrechten orientiertes Asylsystem braucht und erhalten möchte, der muss sich notwendigerweise darüber Gedanken machen, wie er dieses Asylsystem tatsächlich durchführbar und organisierbar hält. Deutschland muss sich bei dieser Frage wirklich vor niemandem auf der Welt verstecken. Wir haben ein Asylsystem, in dem alles so gründlich, so tief und so genau aufgearbeitet wird wie nirgendwo sonst in der Welt. Genau dabei soll es auch bleiben.
Was wir heute machen, ist eben gerade keine Symbolpolitik nach innen, sondern es ist sehr wohl ein Signal. Denn wir sagen deutlich: Hier handelt es sich nur darum, dass wir eine Regelvermutung – ein fürchterliches Wort; was bedeutet es? – zulassen. Die eingängige absolut gefestigte Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichtes als auch des Europäischen Gerichtshofes besagt, dass bei Ländern, in denen keine durchgängige und keine generelle Verfolgung herrscht, durchaus die Möglichkeit besteht, die Regelvermutung, dass es sich um sichere Herkunftsstaaten handelt, aufzustellen.
Seien wir doch bitte einmal ehrlich: Die Zahlen zeigen, dass die Anerkennungsquoten gerade im Hinblick auf Algerien, Marokko und Tunesien von 0 Prozent bis gerade einmal 2 Prozent reichen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass tatsächlich Prüfungen der Einzelfälle stattfinden. Dadurch wird gewährleistet, dass eine Verfolgung, wenn es sie gibt, auch festgestellt wird. Eine Prüfung wird also definitiv auch nach der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat möglich sein. Das wollen wir. Das will unser Rechtsstaat. Das sind wir unserem Asylrecht nach dem Grundgesetz auch schuldig. Dabei bleibt es.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich bin mir nicht ganz sicher, warum Sie aus der Opposition versuchen, die Öffentlichkeit darüber zu täuschen, und behaupten, dass es sich hier um eine Abschaffung des Asylverfahrens im Einzelfall handelt. Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen auch einmal sehen, was die Menschen, die aus diesen Ländern kommen, zu ihren Asylverfahren beitragen. In den seltensten Fällen wird überhaupt ein Verfolgungsgrund nach dem Asylrecht vorgetragen. In den seltensten Fällen erscheinen die jeweiligen Antragsteller in der Anhörung überhaupt. Das heißt natürlich – das ist menschlich verständlich –, dass sie einen anderen Zweck für ihre Reise bzw. Flucht nach Deutschland haben. Niemand will darüber den Stab brechen; aber eine Frage für das Asylverfahren ist das selbstverständlich nicht.
Entscheidend war – das war mit Sicherheit nicht ganz leicht –, dass wir diese Länder in den Verhandlungen an eine Selbstverständlichkeit erinnert haben. Wir haben die Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien an die Pflicht zur Rücknahme ihrer Bürger erinnert. Man muss deutlich sagen, dass der Innenminister auf seiner Reise etwas sehr Unangenehmes getan hat: Er hat die Länder nämlich daran erinnert, dass es eine völkerrechtliche Verpflichtung gibt. Letztendlich war das aber auch entscheidend und wichtig, um diesen Ländern bewusst zu machen, dass es einen Prozess in Europa, in Deutschland gibt, bei dem man sich auch mit der Situation der Menschenrechte in diesen Ländern genau beschäftigt. Ich sage es an dieser Stelle noch einmal deutlich, Herr Innenminister: Unseren herzlichen Dank für Ihre nicht einfache Reise in diese Länder, die Sie unternommen haben, um die Menschen davon zu überzeugen, dass dieses Thema entscheidend und wichtig ist.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Und da bin ich bei der außenpolitischen Komponente. Es ist grundfalsch, zu glauben, es betreffe nur die Innenansicht, wenn sich die Politik mit dem Asylsystem beschäftigt. Wir haben über die Fehlanreize und die Signale nach außen schon diskutiert. Aber die Reise des Innenministers in diese Länder bedeutet doch, dass wir dort einen Prozess mit anstoßen und dafür sorgen, dass ohnehin unbestreitbare Menschenrechtsverletzungen im Einzelfall thematisiert werden. Hier wollen wir auch die deutsche Öffentlichkeit nicht täuschen. Genau darum geht es: Auch mit Blick auf unser Asylsystem wollen wir darauf hinweisen, dass wir die Entwicklung dieser Länder durchaus betrachten müssen. Unsere Hilfe und unsere Entwicklungspolitik müssen einen wesentlichen Anreiz darstellen, die Anstrengungen dieser Länder, die durchaus vorhanden sind, zu unterstützen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht eben gerade nicht darum, diese Länder in irgendeiner Art und Weise mit einem Qualitätsstempel für eine unverbrüchliche demokratische Entwicklung zu versehen. Es geht natürlich darum, unser Asylsystem funktionsfähig zu halten. Es geht aber auch darum, durch das Zusammenwirken der Politik aus unserem Land heraus deutlich zu machen, dass wir Fehlanreize und den Migrationsdruck reduzieren. Am Ende des Tages geht es natürlich auch darum, dass wir helfen bzw. Hilfestellung leisten.
Wir haben uns diesen Gesetzentwurf nicht leicht gemacht. Ich glaube, auch diese Diskussion heute hat gezeigt, dass wir den Mitarbeitern beim BAMF und beim Innenministerium mit Blick auf die Verfahren sagen können: Es wird eine Einzelfallprüfung geben, und es wird nach wie vor eine Qualität des Verfahrens geben. – Aber am Ende des Tages müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass dieser Gesetzentwurf nicht nur angemessen, sondern auch notwendig, nach den Grundsätzen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofes verhältnismäßig und letztlich die einzig richtige Antwort ist, um unser Asylsystem treffsicher und, ja, auch human zu halten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Einstufung der drei Länder Volksrepublik Algerien, Königreich Marokko und Tunesische Republik als sichere Herkunftsstaaten. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/8311, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache 18/8039 anzunehmen. Ich darf diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen bitten. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Ich weise darauf hin, dass mir zahlreiche persönliche Erklärungen zur Abstimmung vorliegen, die wir wie üblich dem Protokoll beifügen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf namentlich ab, und ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Ich eröffne die Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf.
Ist ein Mitglied im Hause anwesend, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Da zeigt sich doch gelegentlich der Vorzug der Mitgliedschaft in der Fußballmannschaft des Bundestages, dass man auch für einen solchen Schlussspurt die nötige Kondition mitbringt.
Vergleichbare Fälle sind nicht erkennbar. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung teilen wir dann später mit.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/8425. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Das hat nicht gereicht, Frau Haßelmann; der Entschließungsantrag ist abgelehnt. -Die Fraktion Die Linke legt allergrößten Wert darauf, dass ihre Zustimmung zum nicht erfolgreichen Entschließungsantrag der Fraktion der Grünen im Protokoll vermerkt wird, was mit dieser Bemerkung sichergestellt ist, Frau Sitte.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Karin Binder, Susanna Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vorläufige Anwendung des CETA-Abkommens verweigern
Drucksache 18/8391
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Jan van Aken, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine lebendige Demokratie – Fairer Handel statt TTIP und CETA
Auch für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 60 Minuten vorgesehen. – Das ist unbestritten. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Klaus Ernst.
(Beifall bei der LINKEN)
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute ist Freitag, der 13., und wir reden über das Gebaren der Bundesregierung zur Inkraftsetzung von CETA. Das passt irgendwie.
CETA ist kein gutes Abkommen. Es ist ein Freihandelsabkommen, dessen oberstes Ziel die weitere Liberalisierung des Handels ist – Artikel 2.1. Es enthält eine Stillstandsklausel, nach der einmal Liberalisiertes nicht mehr zurückgenommen werden kann – Artikel 2.6. Im Übrigen: Es beinhaltet Sonderrechte für Unternehmen durch Schiedsgerichte. Egal ob sie privat oder öffentlich sind: Es sind Sonderrechte.
(Beifall der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])
Meine Damen und Herren, wenn Sie wirklich höhere und bessere Standards wollen würden, dann würde es reichen, ein internationales Verbraucherschutzabkommen auf den Weg zu bringen. Aber das wollen Sie ja gerade nicht.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Klaus Barthel [SPD]: Wollten Sie aber auch nicht bisher!)
Heute geht es allerdings um die Frage, wie Sie das internationale Abkommen CETA gegen den Willen der Bürger – die Mehrheit ist inzwischen dagegen; das weiß man – durchsetzen wollen.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die meisten sind dafür! Sie haben nämlich uns gewählt!)
Gerade jetzt ist Wirtschaftsminister Gabriel im EU-Ministerrat in Brüssel. Er will das Signal an die Öffentlichkeit senden, dass dieses Abkommen als gemischtes Abkommen bewertet wird. Was wäre die Folge? Die Folge wäre, dass auch die nationalen Parlamente dem Abkommen CETA zustimmen müssten, bevor es in Kraft gesetzt wird. Es soll also der Eindruck erweckt werden, dass die nationalen Parlamente beteiligt werden, und alles ist gut.
Leider – guckt genau hin, liebe Kolleginnen und Kollegen! – ist das alles nur Show; denn im selben Moment macht die Bundesregierung Druck, um das Abkommen CETA möglichst schnell vorläufig anzuwenden. Was bedeutet das? Das Abkommen soll angewendet werden, bevor die nationalen Parlamente diese Frage ausreichend beraten und abgestimmt haben. Das ist eine Aushebelung der Parlamente.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Dinge, die eindeutig der EU zuzurechnen sind! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir diskutieren doch jeden dritten Tag darüber!)
Der unerträglichen Geheimniskrämerei um dieses Abkommen, die einige von Ihnen mit Freude verteidigt haben, folgt also noch ein Schritt mehr, nämlich die Ausschaltung der nationalen Parlamente. Das ist nicht hinnehmbar.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Mäßiger Beifall bei den Linken!)
Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass diese Umgehung der nationalen Parlamente verhindert wird. Eine Inkraftsetzung von CETA darf es erst geben, wenn die nationalen Parlamente darüber beraten haben. Sonst entmachten wir uns hier selber.
Ich will das erklären. Durch eine vorläufige Anwendung sollen die Vertragsteile, die in den Kompetenzbereich der EU fallen, noch vor dem Ratifizierungsprozess durch die Mitgliedstaaten und allein durch Beschluss des Ministerrates in Kraft treten. Als Entgegenkommen darf das Europäische Parlament davor über CETA abstimmen. Übrigens: Ein Recht darauf hat es nicht.
(Dirk Wiese [SPD]: Erste Vorlesung Jura!)
Lesen Sie die entsprechenden Bestimmungen nach!
Doch bisher ist äußerst umstritten, welche Bereiche in den Kompetenzbereich der Mitglieder fallen und welche nicht. Das ist vollkommen offen. Die EU sagt nach wie vor: „Das ist alles unser Ding“, und die Nationalstaaten haben eigentlich gar nichts zu melden.
Auch die Bundesregierung kann dazu weiterhin keine klare Auskunft geben – und das, obwohl seit Ende Februar der endgültige Vertragstext vorliegt. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass jedenfalls die CETA-Bestimmungen zum Investitionsschutz und zur Beseitigung von Investitionsstreitigkeiten auch die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten berühren. Der Juristische Dienst des Rates der Europäischen Union ist wiederum gegenteiliger Auffassung. Undurchsichtiger geht es wirklich kaum.
Wir sehen: CETA ist ein äußerst kompliziertes und komplexes Abkommen.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da haben Sie mal etwas Richtiges über CETA gesagt!)
Ein Aufsplitten in „EU only“-Teile und gemischte Teile ist weder sinnvoll noch möglich.
(Beifall bei der LINKEN)
Auch Professor Mayer von der Universität Bielefeld schreibt in einem Gutachten, das übrigens im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erstellt wurde:
Wie ein Tropfen Pastis ein Glas Wasser trübt, machen schon einzelne Teilaspekte eines Abkommens das Abkommen als Ganzes von der Zustimmung der Mitgliedstaaten abhängig.
Ein Gutachten für das Wirtschaftsministerium. – Wenn man dem folgt, ist vollkommen klar, dass die Bundesregierung im Rat keiner vorläufigen Anwendung eines solchen Abkommens zustimmen kann.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aber es kommt noch dicker. Die EU-Kommission, die offenlässt, ob CETA als Ganzes nicht doch in alleiniger EU-Zuständigkeit liegt, will diese Frage mit einem Gutachten vom Europäischen Gerichtshof klären lassen, und zwar auf der Basis des Freihandelsabkommens mit Singapur. Dieses Gutachten soll es allerdings erst nächstes Jahr geben. Vorher jedoch soll über eine vorläufige Anwendung entschieden werden. Was ist das denn, meine Damen und Herren? Da merkt man doch, dass die Leute hier hinter die Fichte geführt werden. Wenn wir da mitmachen, dann muss ich wirklich sagen: Das versteht kein Mensch mehr.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Dieses Abkommen – das kommt hinzu – ist bei den Bürgern höchst umstritten. Es wird gerade nach der Geheimniskrämerei eine Mitwirkung der Parlamente erwartet. Aber die vorläufige Anwendung schafft Fakten, bevor die nationalen Parlamente entscheiden dürfen. Was würde passieren, wenn CETA nach einer vorläufigen Inkraftsetzung in den nationalen Abstimmungen durchfällt? Glauben Sie, dass dann die Abkommen wieder rückholbar sind? Wenn man eine Schleuse öffnet, fließt das Wasser durch; das bekommt man nicht mehr zurück. Genauso ist es bei einem solchen Abkommen.
Meine Damen und Herren, wir erwarten eine klare Haltung der Bundesregierung, dass es keine vorläufige Anwendung von CETA gibt. Wir erwarten, dass das deutsche Parlament dem Minister in dieser Frage den Rücken stärkt und deshalb unserem Antrag zustimmt: Keine vorläufige Anwendung von CETA!
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bevor der nächste Redner das Wort erhält, will ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Einstufung der drei genannten Länder als sichere Herkunftsstaaten bekannt geben: abgegebene Stimmen 570. Mit Ja haben gestimmt 424, mit Nein haben gestimmt 143, und enthalten haben sich 3 Kolleginnen und Kollegen. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, manchmal besteht die Gefahr, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Freihandel ist seit über 200 Jahren unbestritten eine Formel für Wachstum, eine Formel für Wohlstand, eine Formel zur Schaffung von Arbeitsplätzen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von Abgeordneten der LINKEN)
Die Absenkung von Zöllen führt dazu, dass es eine große Auswahl an Produkten zu niedrigen Preisen gibt und dass der Wettbewerb intensiviert wird. Das ist eben das Kernelement in der sozialen Marktwirtschaft. Der Wettbewerb führt dazu, dass Effizienzpotenziale gehoben werden, die dann den Menschen zum Vorteil gereichen. Das ist Freihandel. Diesen Erfolg leben wir in Deutschland jeden Tag. Es gibt kein Land in der Welt, das so sehr in die Globalisierung und in den weltweiten Handel eingebunden ist wie Deutschland:
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wer blutet dafür?)
nicht nur unsere leistungsfähige Industrie, sondern vor allem auch die mittelständischen Unternehmen in Deutschland.
Ich komme aus der Region Stuttgart. Dort gibt es sehr viele mittelständische Unternehmen, sogenannte Hidden Champions, Weltmarktführer in bestimmten Bereichen. Ich nenne hier nur Stihl, Kärcher, Leibinger, Schnaithmann und wie sie alle heißen. Das sind kleine Unternehmen mit zum Teil 30, 40 oder 50 bis hin zu mehreren Hundert oder Tausend Beschäftigten. Alle diese Unternehmen haben heute einen Exportanteil von weit über 50 Prozent bis zum Teil 90 Prozent. Das bildet die Basis für unseren Wohlstand in diesem Land.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Da treten Sie an und sagen: Handel braucht ganz offensichtlich keine Regeln. Wir gestalten die Globalisierung nicht, oder wir überlassen sie anderen. – Das ist definitiv nicht unsere Politik. Wir wollen die Globalisierung gestalten. Deshalb brauchen wir Regeln. Die Globalisierung braucht Regeln und muss gestaltet werden.
Worum geht es? Es geht um die Absenkung von Zöllen, und zwar auch bei CETA.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Absenkung von Verbraucherschutz! Absenkung von Arbeitnehmerrechten!)
Wir haben nur noch 22 Prozent Zoll auf Baumaschinen, Züge und stromproduzierende Geräte und 11,5 Prozent auf Wein, Bier, Liköre und Schokolade. Damit sparen die EU-Exporteure selbst dann, wenn die Exporte nicht ansteigen würden, 500 Millionen Euro jährlich bei Exporten nach Kanada.
Aber das ist keine statische Betrachtung. Schauen wir uns doch die Hunderte von Freihandelsabkommen an, die Deutschland in der Vergangenheit geschlossen hat oder die die EU abgeschlossen hat, seit die Zuständigkeit bei ihr liegt. Nehmen wir zum Beispiel das Freihandelsabkommen mit Südkorea. Damals gab es auch Befürchtungen, insbesondere seitens der Automobilindustrie, dass die Koreaner davon vielleicht stärker profitieren würden als wir. Was aber ist das Ergebnis dieses Abkommens? Die EU-Ausfuhren nach Südkorea sind insgesamt um 35 Prozent gestiegen. Bei den vollständig liberalisierten Gütern sind sie sogar um 46 Prozent gestiegen. Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Südkorea ist also ein Erfolgsrezept.
Der Marktanteil der deutschen Premiummarken in Südkorea hat sich von 25 Prozent auf 75 Prozent erhöht, und dies in den Jahren der vorläufigen Anwendung dieses Abkommens. Die Zuständigkeit liegt bei der EU, und in der Tat besteht ein Wirrwarr. Man kann sich darüber unterhalten, ob man ihn vielleicht bereinigen sollte.
Generell liegt die Zuständigkeit bei der EU. Die EU verhandelt die Freihandelsabkommen in einem Rahmen, den die nationalen Staaten – so auch wir – der EU vorgeben. Dann kommt man irgendwann zu einem Ergebnis, und dann wird es vom EU-Parlament genehmigt, das dafür die gleiche demokratische Legitimation hat wie wir im Deutschen Bundestag. Da diese Abkommen aber auch sogenannte gemischte Anteile enthalten, müssen auch die nationalen Parlamente zustimmen. Zum Teil sind aber nicht nur die nationalen Parlamente beteiligt: In Belgien stimmt zum Beispiel auch das Regionalparlament der 70 000 Mitglieder starken deutschsprachigen Gruppe darüber ab. Man kann sich darüber unterhalten, ob dieser Prozess sinnvoll ist, weil er sich zum Teil über Jahre hinzieht.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Demokratie ist sehr sinnvoll! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sehr sinnvoll!)
Deshalb hat es fast fünf Jahre gebraucht, bis das Abkommen mit Südkorea letztlich von allen 28 Mitgliedstaaten ratifiziert wurde. Als Letzte haben Italien und Griechenland es im letzten Jahr ratifiziert.
Jetzt haben wir das Abkommen mit Kanada, das neben der Abschaffung von Zöllen Standards einführt und vereinheitlicht und damit insbesondere doppelte Standards beseitigt, was wiederum ein großer Vorteil insbesondere für unseren Mittelstand ist.
Ein großes Thema von CETA ist das Vergaberecht. Mit CETA haben EU-Unternehmen in Kanada auf allen Verwaltungsebenen – also nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch in den Provinzen – die Möglichkeit, sich an öffentlichen Ausschreibungen zu beteiligen. Das ist bisher nicht der Fall. Auch das bedeutet Wettbewerb und neue Chancen für Unternehmen aus der Europäischen Union und natürlich auch umgekehrt.
Und da frage ich jetzt: Wo liegen die Gefahren? Wo liegen die Probleme? Ich kann überhaupt keine erkennen. Wir gestalten vielmehr gemeinsam mit anderen Partnern die Globalisierung. Es wäre in der Tat wünschenswert, wir könnten die Globalisierung im Rahmen der WTO, der Welthandelsorganisation, multilateral gestalten. Dann kommen wir aber leider nicht in der Geschwindigkeit voran, wie wir uns das wünschen. Deshalb hat sich die EU entschlossen – nachdem viele andere Regionen bzw. Länder dieser Welt bilaterale Abkommen geschlossen haben, um die Globalisierung in ihrem Sinne zu gestalten –, dass wir nicht abseits stehen sollten, sondern mitspielen und versuchen, unsere Standards zu Weltstandards zu machen, damit diese Standards dann hoffentlich wiederum in multilaterale Abkommen einfließen können.
Das Gleiche gilt auch bei Fragen zu Investitionssicherheit und Schiedsgerichtshöfen. Das vorliegende Abkommen zwischen der EU und Kanada sieht zum ersten Mal ein neues Verfahren bei Schiedsgerichten vor. Richter entscheiden. Sie sind unabhängig, werden von den Vertragsparteien ernannt und dürfen keine Nebeneinkünfte haben. Auch Berufungsinstanzen sind vorgesehen. Verhandlungen sind öffentlich. Schriftsätze werden veröffentlicht. Es gibt vieles andere mehr, was es in der Vergangenheit nicht gab. Das ist das beste Abkommen, das wir jemals hatten.
Wir haben vielleicht die Chance, die Punkte, die wir gemeinsam mit Kanada erarbeitet haben, in andere Abkommen hineinzuverhandeln. Auch bei TTIP wird darüber gesprochen und verhandelt. Die Amerikaner sehen das zum Teil anders. Aber deshalb wird ja verhandelt. Wir verhandeln des Weiteren mit den ASEAN-Staaten, Japan und China. Gerade im Hinblick auf die asiatischen Länder ist es wichtig, dass wir Investitions- und Planungssicherheit für unseren Mittelstand, unsere Wirtschaft, unsere Unternehmen und unsere Arbeitnehmer schaffen. Wir wollen all das, was wir im Abkommen mit Kanada erreicht haben, in zukünftige Handelsabkommen einfließen lassen.
Nun müssen Sie mir einmal erklären – ich kann das beim besten Willen nicht erkennen –, wo hier Gefahren für den Verbraucherschutz und den Menschen – Sie sprechen von Paralleljustiz – bestehen.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Alle sind doof, aber Pfeiffer ist klug!)
Freihandel, der im Rahmen der Globalisierung von uns mitgestaltet wird, ist und bleibt die beste Formel für Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir stimmen deshalb gerne dafür und sind froh, dass CETA nun endlich verabschiedet werden und in Kraft treten kann.
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Lemminge!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Darf ich mit Blick auf die besondere Verantwortung des Parlaments vielleicht eine Bitte für die weitere Diskussion und die Behandlung des Themas äußern? Wir sollten mit aller möglichen Sorgfalt zwei Dinge auseinanderhalten, nämlich zum einen die Frage, was von solchen Abkommen überhaupt zu halten ist – darüber gibt es Streit; dieser ist fraglos zulässig –, und zum anderen die Frage, ob für ein ausverhandeltes Abkommen eine mögliche Zustimmung der Bundesregierung zum vorläufigen Inkraftsetzen eines Teils dieses Abkommens ohne Zustimmung des Bundestages erfolgen kann und erfolgen soll. Diese beiden Dinge hängen eng miteinander zusammen, sind aber völlig unabhängig voneinander zu entscheiden.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da kann man auch unterschiedlicher Auffassung sein!)
Darauf bitte ich im Interesse des ganzen Hauses alle Beteiligten jede denkbare Sorgfalt zu verwenden.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marcus Held [SPD]: War das jetzt eine politische Stellungnahme? – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Herr Lammert, das war sehr gut!)
Die Kollegin Katharina Dröge ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident, ich möchte mich erst einmal für diese klaren Worte zum parlamentarischen Beratungsprozess und zur Verantwortung, die wir im Abstimmungsprozess haben, bedanken.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Ich finde, dass das eine sehr wichtige Aussage Ihrerseits ist. Deswegen ist es wichtig, dass wir heute auch über die Frage der vorläufigen Anwendung dieser Abkommen sprechen. Zuvor möchte ich einen Schritt zurückgehen. Ich möchte über beides sprechen, nämlich sowohl über die Beratung des Inhalts als auch später über die Beratung des Verfahrens und in diesem Zusammenhang über unser parlamentarisches Selbstverständnis, also darüber, wie ernst wir das eigentlich nehmen, was wir hier im Parlament tun.
Das Abkommen mit Kanada liegt seit fast zwei Jahren, seit Sommer 2014, in englischer Sprache vor. Wir haben darüber diskutiert, wann der richtige Zeitpunkt wäre, über dieses Abkommen zu beraten. Wir als Grüne und auch die Fraktion Die Linke haben immer wieder Anträge mit Kritik am Verhandlungstext in das Parlament eingebracht. Im Sommer letzten Jahres haben wir einen sehr ausführlichen Antrag in die Beratungen eingebracht. Sie als Koalitionsfraktionen haben uns immer wieder gesagt, dass Sie über das Abkommen genauso ernsthaft beraten wollen wie wir, aber erst dann, wenn das Abkommen in deutscher Sprache vorliegt, wenn eine fundierte Beratung des Textes möglich ist. Dieses Argument nehme ich durchaus ernst.
Das Problem ist nur: Wir haben jetzt die Information bekommen, dass der Handelsministerrat im Oktober dieses Jahres über das Abkommen beschließen wird. Das Abkommen liegt aber immer noch nicht in deutscher Sprache vor. Höchstwahrscheinlich wird das erst Ende Juni/Anfang Juli, also zu Beginn unserer parlamentarischen Sommerpause, vorliegen. Es sind 500 Seiten Vertragstext und 1 500 Seiten Anhänge. Die Frage, die ich Ihnen ganz ernsthaft stellen möchte, ist: Wie stellen Sie sich dann ein geordnetes parlamentarisches Beratungsverfahren, von dem Sie immer gesprochen haben, vor?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Ich denke, es liegt in unserer Verantwortung, jetzt ein geordnetes parlamentarisches Beratungsverfahren sicherzustellen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass, wenn die Bundesregierung im Handelsministerrat sowohl über den Vertragstext als auch gegebenenfalls über die vorläufige Anwendung des Abkommens entschieden hat, danach noch eine parlamentarische Beratung erfolgen wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Sie als Regierungsfraktionen müssen, wenn Sie noch etwas an diesem Vertragstext ändern wollen oder wenn Sie Ihrer Bundesregierung noch etwas mit auf den Weg geben wollen, was das Abstimmungsverhalten betrifft, jetzt über das Abkommen reden. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Egal, auch wenn das Abkommen in englischer Sprache vorliegt, die Analyse muss jetzt erfolgen. Die Schiedsgerichte – da müssten doch auch Sie mir zustimmen – sind das beste Beispiel dafür, dass es notwendig ist, jetzt über dieses Abkommen zu reden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Sie haben gerade hier gefeiert, dass Sie Veränderungen in Bezug auf die Schiedsgerichte durchgesetzt haben. Wir sagen: Das reicht nicht; das ist immer noch das alte ISDS. Ich gebe Ihnen recht, dass es hier Veränderungen gegeben hat. Die hat es aber nur gegeben, weil wir uns dieses Vertragswerk im Sommer 2014 angeschaut haben und kritisiert haben, was daran schlecht ist. Wir haben Druck auf die Bundesregierung ausgeübt und gesagt, dass es mit uns keine Zustimmung zu solch einem Abkommen geben wird, wenn diese schlechten Regelungen enthalten sind. Nur durch diesen Druck ist überhaupt etwas passiert. Ich frage Sie: Wann kommt der Druck von Ihnen? Wenn wir mit der Beratung warten, bis es endlich einen deutschen Vertragstext gibt, was sollen wir dann im September 2016 noch machen? Einen Monat später soll das Abkommen beschlossen werden. Was sollen wir dann noch verändern?
Ich gebe Ihnen ein zweites Beispiel, das zeigt, warum es so wichtig ist, jetzt darüber zu beraten. Es geht um die Regelungen zur regulatorischen Kooperation. Wir haben im letzten Sommer herausgefunden, dass im CETA-Vertragstext eine Regelung steht, wonach es Gremien geben wird, die über den Vertrag entscheiden können, ohne dass die Beteiligung der Parlamente sichergestellt ist. Die Bundesregierung hat mehrfach auf unsere Fragen geantwortet, das stimme nicht. Sie hatte es selber nicht gesehen. Irgendwann hat sie gemerkt: Oh, die Grünen haben recht. Da gibt es doch eine Formulierung, dass die Parlamente nicht eingebunden werden müssen. – Jetzt ist diese Regelung aus dem Vertragstext herausgenommen worden. Das geschah, weil wir so genau hingeschaut haben.
Es gibt eine ganze Reihe weiterer problematischer Formulierungen, die immer noch im Vertragstext stehen. Deswegen kann ich nur an Sie appellieren: Nehmen Sie die Arbeit, die wir miteinander machen müssen, ernst! Das Zeitfenster schließt sich. Im Herbst 2016 ist das Ganze vorbei.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Das Thema Schiedsgerichte ist weiterhin im Vertragstext. Sie müssen sich mit unseren Argumenten auseinandersetzen. Es stehen weiterhin intransparente Beratungsgremien drin. Es ist weiterhin die richterliche Unabhängigkeit nicht gesichert. Es gibt weiterhin unpräzise Rechtsbegriffe. Es gibt weiterhin keine Begrenzung der Schadenssummen. Klagen wie die von Vattenfall oder die von Philip Morris gegen Australien oder auch die von TransCanada gegen die USA sind mit diesem System der Schiedsgerichte weiterhin möglich. Wenn Sie als SPD sagen, Sie wollten die Schiedsgerichte nicht, dann sage ich Ihnen: Jetzt ist der Zeitpunkt, um Druck auf die Bundesregierung auszuüben, um noch irgendetwas zu bewegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Ebenso verhält es sich mit dem Vorsorgeprinzip, der Sicherung der kommunalen Daseinsvorsorge. Wir haben in verschiedenen Anträgen geschrieben, dass es da Probleme in diesen Abkommen geben wird. Die europäischen Verbraucherschutzstandards sind eben nicht gesichert, ebenso nicht die kommunale Daseinsvorsorge. Im ganzen Vertragstext gibt es Rechtsunklarheiten. Wann, wenn nicht jetzt, wollen wir dafür sorgen, dass sich etwas ändert? Ich kann nur an Sie appellieren: Setzen Sie sich gemeinsam mit uns dafür ein, dass es ein ordentliches parlamentarisches Beratungsverfahren gibt, dass es nicht zu einer vorläufigen Anwendung dieses Abkommens kommt, damit wir die Rechte, die das Parlament hat, auch tatsächlich nutzen können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Barthel für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Klaus Barthel (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Dröge, genau das tun wir.
(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zunächst einmal muss man festhalten, worüber wir heute beraten und entscheiden. Es geht um zwei Anträge der Linksfraktion, einen älteren mit dem Titel „Für eine lebendige Demokratie – Fairer Handel statt TTIP und CETA“ und einen neuen Antrag zum vorläufigen Inkrafttreten des Abkommens. Der Antrag der Grünen zu CETA ist zurückgezogen und heute von der Tagesordnung abgesetzt worden. Das ist auch zu begrüßen, weil auch dieser Antrag überholt war und wir jetzt in eine neue Phase eintreten.
Den älteren Antrag der Linken von November 2015 können wir heute problemlos ablehnen. Das macht auch deutlich, was das Problem unserer Beratungen ist: Der Antrag bezieht sich nämlich auf einen CETA-Text, den es nicht mehr gibt. Er ist also überholt.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Beyer [CDU/CSU])
Auf die inhaltlichen Widersprüche und Probleme dieses Antrags der Linken zu CETA habe ich hier schon in der ersten Beratung hingewiesen.
Was die Abstimmung über diese Anträge angeht, will ich vorsorglich noch einmal sagen – wir wissen ja, was in den Netzwerken passiert –: Wenn wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten diese Anträge zu CETA heute ablehnen bzw. überweisen, heißt das noch lange nicht, dass wir am Ende für dieses Vertragswerk oder für TTIP sind – davon sind wir weiter entfernt denn je –; vielmehr sind wir jetzt in den Beratungen.
(Beifall bei der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Barthel, darf die Kollegin Sitte eine Zwischenfrage stellen?
Klaus Barthel (SPD):
Aber sicher.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
Vielleicht nur eine kurze Korrektur, Herr Kollege. Es ist das Schicksal von Anträgen, dass sie irgendwann eingebracht werden. Dann werden sie in den Ausschüssen beraten, und dann kommen sie, mit einer Beschlussempfehlung versehen, wieder zurück. In der Zwischenzeit passiert politisch natürlich etwas, unter anderem, weil solche Anträge gestellt worden sind.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dieser Antrag ist älteren Datums, es hat sich etwas verändert, und wir schließen diese Debatte heute mit einer Beschlussempfehlung ab. Das heißt: Dieser Antrag ist nicht veraltet. Er ist vielmehr eingebracht worden und hat Wirkung gezeigt.
(Peter Beyer [CDU/CSU]: Ach!)
Heute wird die Behandlung dieses Antrags mit der Abstimmung über die Beschlussempfehlung abgeschlossen.
Uns reicht das aber nicht; deshalb gibt es einen zweiten Antrag. Die Kollegen haben gerade erläutert, warum das nicht reicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Klaus Barthel (SPD):
Darum war es ja klug, dass wir den ersten Antrag in die Ausschüsse überwiesen haben, was jetzt auch für den zweiten Antrag gilt.
(Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD])
Wir haben damals schon gesagt: Der Antrag bezieht sich auf einen Text, den wir nicht kennen und der sich zwischenzeitlich auch noch verändert hat. Das ist genau der Punkt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ihr aktueller Antrag zu CETA, den der Kollege Ernst vorgestellt hat, ist natürlich wesentlich spannender. In der Tat ist die Frage zu klären, wie ein vorläufig in Kraft getretener CETA-Vertrag durch nationale Parlamente gegebenenfalls rückholbar ist. Das müssen wir noch klären. Aber eine Entscheidung über diesen Antrag kann es doch erst geben, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
Erstens. Der Vertrag muss von der EU-Kommission vorgelegt sein, das heißt, er muss in die Landessprache übersetzt worden sein. Das wird voraussichtliche Ende Juni dieses Jahres der Fall sein. Vorher wird die EU-Kommission den Vertragsentwurf nicht in den Rat und nicht in die europäischen Gremien einbringen können.
Zweitens. Der Europäische Rat muss sich mit der Frage, ob es sich um ein gemischtes oder nicht gemischtes Abkommen handelt, befasst und dazu einen Beschluss gefasst haben. Die Position der Bundesregierung dazu ist bekannt.
Drittens. Der Rat muss dem Vertrag insgesamt zustimmen oder ihn ablehnen, und dann muss er noch durch das Europäische Parlament.
Der zweite Teil des Entscheidungsprozesses findet im Herbst statt. Es gibt also überhaupt keinen Grund, heute über den Antrag der Linken zu entscheiden, und deswegen überweisen wir ihn.
Wir haben uns schon darauf verständigt, Kollege Ernst, dass sich der Bundestag noch vor der Ratsbefassung, noch vor der Ratsentscheidung ausführlich mit CETA befassen wird und gegebenenfalls der Bundesregierung einen Auftrag mit auf den Weg geben kann. Das heißt für uns: Wir werden den Antrag überweisen. Dann können wir ihn im Wirtschaftsausschuss und in anderen Ausschüssen in Ruhe beraten, etwa in Form von Anhörungen. Für uns geht Sorgfalt vor Schnelligkeit, und deswegen wollen wir diesen Antrag an die Ausschüsse überweisen. Wir wollen jetzt eben nicht Knall auf Fall entscheiden müssen, bevor wir eine deutsche Fassung haben, sondern das Ganze in Ruhe im Parlament beraten. Das ist der Sinn der Übung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zum Inhalt nur ganz kurz noch: Einerseits sehen wir natürlich, dass es große Fortschritte gegeben hat. Meine Kolleginnen und Kollegen werden dazu in der Folge noch etwas sagen. Aber Fakt ist doch – das hat auch Frau Dröge zugegeben –: Im letzten halben Jahr hat diese Bundesregierung, hat Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel in der Substanz mehr erreicht als in den letzten fünf Jahren, in denen verhandelt worden ist.
(Beifall bei der SPD)
Frau Dröge hat gesagt, der Entwurf liege seit zwei Jahren in Englisch vor. Ich will nur einmal daran erinnern, dass Frau Malmström uns damals in Brüssel zu CETA erklärt hat – wir waren zusammen dort –: It is done. – Aber Tatsache ist: Es ist eben nicht „done“. Wir müssen uns einfach einmal vorstellen, was es bedeutet hätte, wenn es von Anfang an die Transparenz, für die wir gesorgt haben, gegeben hätte, wenn es von Anfang an das öffentliche Interesse gegeben hätte, wenn es von Anfang an die qualifizierte Arbeit in den Parlamenten gegeben hätte und wenn es von Anfang an eine Regierungsbeteiligung der SPD gegeben hätte, die dafür gesorgt hat, dass sich etwas bewegt hat.
(Beifall bei der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Barthel, der Kollege Ernst möchte Ihnen mit einer ganz kurzen Zwischenfrage Gelegenheit für eine ganz kurze Erweiterung Ihrer Redezeit geben. Das ist eine unwiderstehliche Versuchung, nicht?
Klaus Barthel (SPD):
Sie sagen es.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte schön.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Herzlichen Dank. – Meine Frage ist wirklich ganz einfach. Wenn es hier darum geht, zu entscheiden, ob das Abkommen vorläufig in Kraft gesetzt werden kann – ohne Parlament – oder nicht, ist es völlig unerheblich, ob der Text in Chinesisch, Französisch, Russisch oder sonstwie vorliegt. Würden Sie mir da zustimmen?
Klaus Barthel (SPD):
Nein. Eine vorläufige Inkraftsetzung kann es doch nur geben, wenn sich der Rat damit beschäftigt hat und zum Beispiel die Frage des gemischten Abkommens entschieden ist und damit auch klar ist, wer die Zuständigkeiten hat. Wenn es nämlich kein gemischtes Abkommen sein sollte, wie die Kommission glaubt, dann wird es auch gar keine nationale Befassung geben können.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber eine vorläufige Zustimmung!)
– Deswegen wird es auch keine vorläufige Zustimmung geben,
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eben!)
weil die Bundesregierung ja die Auffassung vertritt, dass es ein gemischtes Abkommen ist. – Die Frage, ob eine vorläufige Inkraftsetzung erfolgt, wird erst dann entschieden, wenn der Rat dem Vertrag insgesamt zustimmt oder eben nicht zustimmt.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ohne Parlament oder mit? Ohne uns oder mit uns? Das ist die Frage!)
– Das wird eben zu klären sein.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das können wir hier klären! – Gegenruf von der SPD: Das können wir hier nicht klären! Setzen!)
– Darum habe ich ja gesagt: Wir werden hier auch im Rahmen der Ausschüsse, etwa in Form von Anhörungen, beraten, wie sich die Sache verhält und welche Empfehlungen wir der Bundesregierung dann für die Zustimmung – gemischtes oder nicht gemischtes Verfahren, vorläufige Inkraftsetzung – mitgeben. Das ist jetzt nicht zu entscheiden. Der Eindruck, der hier erweckt wird, das wäre in den nächsten zwei, drei Wochen zu entscheiden, ist falsch. Das steht nicht an.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist eine Grundsatzfrage: mit oder ohne Parlament?)
– Das ist in der Tat eine Grundsatzfrage; die wollen wir klären. Diese Frage können wir aber nicht heute klären.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wieso nicht?)
Wir befinden uns mitten im Prozess, weil wir keine deutsche Textfassung haben und weil wir ständig darauf hingewiesen haben, hier nicht über etwas entscheiden zu wollen und zu können, das uns nicht vorliegt. Das beweisen auch Ihre Anträge dazu, die schon überholt sind, wenn sie hier in die dritte Beratung kommen.
(Beifall bei der SPD)
Wir sehen aber an diesem Verlauf und an dem, was wir noch vorhaben, dass auch in der Handelspolitik Demokratie möglich ist und dass wir auch zu entsprechenden Verfahren der Beratung in den Parlamenten kommen können. Für uns bleiben in der Tat noch viele inhaltliche Probleme – Kollegin Dröge hat darauf hingewiesen –, zum Beispiel die rote Linie, dass Investoren eben nicht besser zu behandeln sind als Menschen, der Positivlistenansatz, die Sperrklinkenklausel für Rekommunalisierung usw. Das wollen wir anhand eines deutschen Textes, der schwer genug zu verstehen sein wird, den wir in Englisch aber nicht verstehen, im Detail beraten.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Es gibt Menschen, die verstehen das auch in Englisch!)
Wir werden der Bundesregierung auch etwas mit auf den Weg geben, was das vorläufige Inkrafttreten betrifft. Wir werden juristisch klären müssen, welche Rolle nationale Parlamente in diesem Prozess der Entscheidung spielen können. Das ist eine Frage, die in der Tat geklärt werden muss.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Klaus Barthel (SPD):
Darin sind wir uns einig. Deswegen wollen wir heute nicht entscheiden, sondern erst beraten und uns mit der Substanz beschäftigen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Peter Beyer erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Peter Beyer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben vorhin schon gehört, dass wir es, wenn man zurückschaut, mit einer Reihe von Anträgen zu diesem Thema zu tun haben, die da formell entweder direkt oder indirekt mit hineinspielen. Ich bin dem Kollegen Joachim Pfeiffer ausdrücklich dankbar, dass er noch einmal die Vorteile von Freihandelsabkommen – auch vor dem geschichtlichen Hintergrund, wie sich das entwickelt hat – beleuchtet hat.
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Einige haben Vorteile! Das ist schon klar!)
Ich glaube, das ist gerade für die Fraktion Die Linke doch ganz erquicklich, weil sie das immer noch nicht verstanden hat.
(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)
Freihandelsabkommen, meine Damen und Herren, werden zur wirtschaftlichen Verbesserung gerade auch für die EU und für Deutschland beitragen, so eben auch CETA, wie es entworfen ist, das Handelsabkommen mit den Kanadiern. Es ist vielleicht ganz gut, das anfangs noch einmal einzuordnen. Ich will ein paar Zahlen nennen, um die Dimension aufzuzeigen und klarzumachen, über was wir uns hier unterhalten: Kanada ist für die Europäische Union der zwölftwichtigste Handelspartner. 2014 belief sich das Volumen des Handels mit Waren und Dienstleistungen zwischen Kanada und der Europäischen Union auf 32 Milliarden Euro. Deutschland ist innerhalb der EU-Mitgliedstaaten für Kanada der wichtigste Handelspartner – mit einem Volumen im Jahr 2014 von 9 Milliarden Euro; das ist der Wert der Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen von Deutschland nach Kanada. Bei diesen Zahlen – sie sind schon für sich eindrücklich – sieht man: Da ist noch ganz schön Luft nach oben.
Worum geht es bei CETA, in diesem ganz konkreten Fall? Es geht um den Wegfall von Zöllen. Es geht um den Abbau der sogenannten nichttarifären Handelshemmnisse. Es geht um den Zugang zu Märkten, zu öffentlichen Aufträgen in Kanada, aber auch vice versa. Es geht um eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Regulierung. Das sind Inhalte, die hohes Potenzial haben, die Wirtschaftskraft zu verbessern.
Schauen wir uns in den Anträgen einmal an, was die Opposition durch die Freihandelsabkommen alles befürchtet. Es heißt, es sei problematisch, dass sich CETA und TTIP – das möchte ich hier ausdrücklich mit in die Debatte einbringen – stärker als vorherige Abkommen auf Deregulierung, Liberalisierung, Wettbewerb und Kostensenkung konzentrieren. Ich sehe bei diesen angeblichen Problemen gar nichts Negatives, meine Damen und Herren; ganz im Gegenteil. Da müsste doch eigentlich ein Jubelschrei bei all jenen durch die Herzen gehen,
(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)
die wirtschaftspolitisch und auch mit Wirtschaftsverstand denken. Das liegt doch auf der Hand.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das Problem liegt, glaube ich, ganz woanders, nämlich bei den Antragstellern selbst.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)Denn sie setzen die positiven Auswirkungen von Freihandelsabkommen immer mit der Absenkung von Standards gleich. Aber da machen Sie einen Denkfehler. Sie haben Freihandel nicht verstanden. Ich möchte an der Stelle nicht noch einmal all das Richtige erzählen, was insbesondere Kollege Pfeiffer hier ausgeführt hat; es ist ja schon in die Debatte eingeführt worden. Deregulierung hat nichts mit geringeren Standards zu tun, sondern schlicht mit weniger Normen und Vorschriften des Staates, mit weniger staatlichem Eingreifen. Dagegen können Sie doch auch unter dem Stichwort „Bürokratieabbau“ überhaupt nichts haben. Wollen Sie mehr Bürokratie? Nein!
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: CETA ist mehr Bürokratie!)
Wir müssen sie abbauen. Das schafft Wirtschaftskraft. Das stärkt die Wirtschaft. Das ist gut für Arbeitsplätze. Das ist gut für die Bürger. Deswegen können wir natürlich nicht empfehlen – das wird Sie nicht überraschen –, den Anträgen zuzustimmen.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das geht auf keinen Fall!)
Die Antragsteller sind vor allem immer gut im Schlechtreden. Da schwingt – das möchte ich hier auch ganz persönlich betonen – immer auch ein Stück Antiamerikanismus mit.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was erzählen Sie denn hier für einen Quatsch? Ein bisschen mehr Niveau wäre schön!)
Auch – wie soll man das formulieren? – Antikanadismus spielt mit eine Rolle. Alles dies ist leider immer noch ablesbar, zum Teil explizit, zum Teil zwischen den Zeilen. Das ist etwas, was wir sicherlich auch mit bedenken müssen.
Wie wollen wir in Zukunft leben? Wollen wir nicht unseren Wohlstand, den relativen Wohlstand in Deutschland, in Europa, halten? Ich meine: Ja. Wir müssen alles dafür tun, dass wir den Lebensstandard halten und möglichst noch ausbauen. Das geht eben nicht, indem wir uns der immer weiter zusammenrückenden Welt verschließen, indem wir versuchen, die Globalisierung zurückzudrehen, was schon im Ansatz ein untauglicher Versuch wäre. Wir haben es in der Hand, Globalisierung zu gestalten, zu regulieren. Das ist der Weg, der beschritten werden muss, meine Damen und Herren.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Von den vielen anderen Befürchtungen, die sich in den nach der Rechtsförmlichkeitsprüfung von CETA veröffentlichten Texten gar nicht mehr wiederfinden, möchte ich nur zwei benennen:
Umweltschutz. Es hat sich nicht bestätigt, dass Umweltschutzstandards beeinträchtigt werden.
Schiedsgerichte. Beim Aufbau der Schiedsgerichtsbarkeit ist einiges erreicht worden. Es stimmt nicht, dass das immer noch auf dem gleichen Stand ist, der zunächst in den Texten niedergeschrieben war. Da ist einiges verändert worden. Zu den Verbesserungen gehören zum Beispiel die genaue Definition, was Investitionsrechte sind, das Prinzip „Wer verliert, der zahlt“, die Unzulässigkeit der Klagen von Briefkastenfirmen und auch die Öffentlichkeit der Verfahren und von Dokumenten. Das sind wesentliche Fortschritte, die wir nicht negieren sollten.
Was die Debatte über die Schiedsgerichte angeht, kommen noch einige wesentliche Vorschläge hinzu – das müssen wir auch bedenken –, die jetzt im Rahmen der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten von Amerika von der EU-Kommission gemacht wurden. Die EU-Kommission wird nicht müde – sie hat es auch aktuell wieder getan –, das sogenannte „right to regulate“ für den nationalen Gesetzgeber zu betonen. Durch Investitionsschutzklagen können keine nationalen Gesetze ausgehebelt werden. Auch die Unabhängigkeit der Richter soll verbessert werden; Richter dürfen ab ihrer Ernennung nicht mehr parallel als Gutachter oder Anwälte in anderen Investitionsschutzverfahren tätig sein. Eine Berufungsinstanz wird eingeführt. – Bei all diesen wesentlichen Verbesserungen kann ich beim besten Willen nichts Negatives mehr erkennen.
Deutschland geht ja auch nicht jungfräulich in Investitionsschutzdebatten hinein. Deutschland hat 130 – ich betone es: 130 – Investitionsschutzabkommen mit Schiedsgerichtsklauseln abgeschlossen, ist zweimal verklagt und kein einziges Mal verurteilt worden. Vor diesem Hintergrund müssen wir nicht immer dann, wenn es um Schiedsgerichte geht, den Teufel an die Wand malen und den Untergang des Abendlandes einläuten. Das wird der Sache überhaupt nicht gerecht, meine Damen und Herren.
Was die vorläufige Anwendbarkeit des CETA-Abkommens angeht, wurde ja schon vieles Richtige gesagt. Es geht nur um Sachverhalte, die ausdrücklich und klar der Zuständigkeit der EU zugewiesen sind. Wir dürfen doch bei der ganzen Debatte nicht ausblenden, dass spätestens durch den Lissaboner Vertrag das Aushandeln und der Abschluss von Handelsabkommen der EU übertragen worden sind. Das ist geltende EU-Vertragsrechtslage. Punkt! Das können wir nicht einfach durch solche Debatten wegdiskutieren; das ist so. Natürlich – darauf haben auch alle anderen Redner hingewiesen – müssen wir als Abgeordnete sehr darauf achten, dass wir im Ratifizierungsprozess ein Wörtchen mitzureden haben, da es sich bei TTIP und CETA um gemischte Abkommen handeln wird; denn wir sind Volksvertreter im besten Sinne des Wortes und wollen die Bürger vertreten. Wir wollen mitreden und über diejenigen Punkte, die nationale Belange betreffen, mitdebattieren. Es ist sinnvoll, dass die Teile von CETA – später auch von TTIP –, die in der Tat der originären Zuständigkeit der EU zugewiesen sind, direkt anwendbar sind. Das ist gut und wichtig für die Marktteilnehmer. Dadurch kommt dieses Abkommen unmittelbar denjenigen zugute, für die es gemacht ist, und eröffnet ihnen neue Chancen.
Meine Damen und Herren, mit CETA liegt ein ambitioniertes Abkommen vor, das insbesondere nach dem Regierungswechsel in Kanada – das dürfen wir nicht ausklammern – im Rahmen der Rechtsförmlichkeitsprüfung eine textliche Veränderung erfahren hat. Es ist ein ambitioniertes, es ist ein gutes Abkommen, das gut für uns alle ist: für die europäischen und auch für die deutschen Bürgerinnen und Bürger. Aus meiner Sicht ist es abschlussreif. Deswegen werbe ich dafür, dass wir die Anträge aus der Opposition nicht mittragen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Alexander Ulrich erhält das Wort für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)