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Als einen "Paradigmenwechsel in der Frage der Arzneimittelpreisfindung in Deutschland" hatte die Koalition ihre Pläne für die Neuordnung des Arzneimittelmarktes bezeichnet - nun soll er kommen: Am Donnerstag, 11. November 2010, wird der Bundestag ab etwa 13.40 Uhr für eine Stunde über den zweiten Teil des Pharma-Sparpakets debattieren. Namentlich Abgestimmt wird dann unter anderem über die gleichlautenden Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen (17/2413) und der Bundesregierung (17/3116) auf der Basis der Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses (17/3698) sowie über einen Entschließungsantrag der SPD (17/3703). Zu Abstimmung stehen ferner ein Änderungsantrag der SPD (17/3702) und ein Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen (17/3704).
Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz soll das Preismonopol der Pharmaindustrie für Medikamente brechen. Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler (FDP) will damit die "schwierige Balance zwischen Innovation und Bezahlbarkeit" schaffen. Allein im Jahr 2009 habe die gesetzliche Krankenversicherung mehr als 32 Milliarden Euro für Arzneimittel ausgegeben, heißt es im Antrag der Koalition. Dies entspreche einem Zuwachs von rund 1,5 Milliarden Euro, der hauptsächlich durch Arzneimittel ohne Festbetrag verursacht werde.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die pharmazeutische Industrie künftig den Nutzen neuer Arzneimittel nachweisen und den Preis, den ihr die Krankenkassen dafür erstatten, mit diesen aushandeln muss. Neue und innovative Arzneimittel sollen auch in Zukunft allen Patienten zur Verfügung stehen.
Bereits heute führt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im Rahmen der Zulassung neuer Arzneimittel eine wissenschaftlich fundiert Nutzen-Risiko-Abwägung durch. Erst wenn am Ende umfangreicher Prüfungen feststeht, dass der Nutzen eines neuen Arzneimittels die möglichen Risiken deutlich übersteigt, erteilt das Bundesinstitut dem Medikament die Zulassung. So werden Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen zunächst unabhängig von sozialrechtlichen Fragestellungen allein anhand medizinisch-pharmakologischer Fragestellungen bewertet.
Zukünftig sollen die Unternehmen im ersten Jahr der Markteinführung ihr Produkt zum geforderten Preis vermarkten können, innerhalb dieses ersten Jahres aber den Erstattungsbetrag und die Erstattungsbedingungen aushandeln müssen. Konkret heißt das: Zur Markteinführung sollen die pharmazeutischen Unternehmer dem Gemeinsamen Bundesausschuss ein Dossier zu Kosten und Nutzen der Arzneimittel einreichen, insbesondere zum medizinischen Zusatznutzen und zu den Patientengruppen, die besonders profitieren.
Dieser soll daraufhin eine Nutzenbewertung veranlassen. Stellt der Gemeinsame Bundesausschuss für ein Arzneimittel keinen Zusatznutzen fest, wird es direkt in das Festbetragssystem überführt.
Damit soll für diese Arzneimittel die Erstattungshöhe auf den Preis vergleichbarer Medikamente begrenzt werden. Für Arzneimittel mit Zusatznutzen vereinbart der pharmazeutische Unternehmer nach dem Willen der Koalition künftig mit dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen innerhalb von sechs Monaten nach dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Nutzenbewertung "in Direktverhandlungen einen GKV-Erstattungsbetrag als Rabatt auf den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers".
Auch wenn sich grundsätzlich alle Fraktionen im deutschen Bundestag einig sind, dass die Arzneimittelkosten gesenkt werden müssen, haben die Pläne der Koalition für Streit gesorgt. Kritiker befürchten, dass die Vorgaben zur Nutzenbewertung bei innovativen Arzneimitteln künftig weniger streng werden als bisher - geplant ist, dass das Bundesgesundheitsministerium dem Gemeinsamen Bundesausschuss durch eine Rechtsverordnung Vorgaben für diese Bewertung macht.
Außerdem soll der Gemeinsame Bundesausschuss die Verordnung von Arzneimitteln ausschließen können, wenn deren "Unzweckmäßigkeit" erwiesen ist und nicht mehr wie bisher, wenn sich ihr Nutzen nicht belegen lässt oder hohe Risiken mit der Verordnung einhergehen. Die Oppositionsfraktionen hatten in den Beratungen bemängelt, dass es keine Verfahren gebe, um eine solche Unzweckmäßigkeit nachzuweisen.
Der Bundestag wird am Donnerstag auch über verschiedene Anträge der Opposition abstimmen. Darin fordert etwa die SPD (17/1768, 17/1201) einen höheren Herstellerrabatt, den pharmazeutische Unternehmer den gesetzlichen Krankenkassen gewähren müssen, und einen besseren öffentlichen Zugang zu Informationen über klinische Studien.
Die Fraktion Die Linke spricht sich in ihren Anträgen (17/2324, 17/2322, 17/893) für ein "modernes Preisbildungssystem bei Arzneimitteln" und die Veröffentlichung aller Ergebnisse klinischer Studien aus, während die Bündnis 90/Die Grünen eine Positivliste für Arzneimittel und eine unabhängige Patientenberatung wollen.
Die Abgeordneten der Grünen fordern in ihren Anträgen (17/1985, 17/1418), die Patientenberatung auszubauen und die Preise für Arzneien zu begrenzen sowie die Qualität und Sicherheit der Arzneimittelversorgung zu verbessern.
Der Gesundheitsausschuss hat am 8. November dem Koalitionsentwurf mehrheitlich zugestimmt. Die Regierungsfraktionen befürworteten das durch zahlreiche Änderungsanträge modifizierte Arzneimittelsparpaket, SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen lehnten es ab. Der Abschluss der Beratungen im Ausschuss gilt vorbehaltlich der Voten der mit beratenden Ausschüsse, daher wird das Gesetz am 10. November noch einmal auf der Tagesordnung der Gesundheitsexperten.
Die Unionsfraktion im Ausschuss sprach von einem ”echten Paradigmenwechsel“ durch das neue Gesetz. Erstmals gebe es ein ”klares Signal“, dass die Regierung wirkliche Einsparungen auf dem Arzneimittelmarkt erzielen wolle, unter anderem durch eine Nutzenbewertung von Medikamenten. Ein wesentlicher Punkt sei, dass auch etwas für die Private Krankenversicherung (PKV) getan werde. Diese soll laut Gesetzentwurf auch von den durch die Bewertung erzielten Rabatten profitieren. ”Wir stärken die wettbewerblichen Grundsätze", hieß es auf Seiten der Union.
Die Opposition begrüßte grundsätzlich den Ansatz der Kosten-Nutzen-Bewertung von Medikamenten, Kritik gab es jedoch in einzelnen Punkten. Die Arzneimittelhersteller könnten im ersten Jahr der Markteinführung den Preis nach wie vor selbst festlegen, kritisierte die SPD. Ähnlich argumentierte die Linksfraktion: Den Herstellern werde zu viel Zeit gelassen, ein neues Medikament am Markt zu etablieren. Für die Kassen sei es dann schwierig, die Erstattung später abzulehnen.
Zudem geht den Sozialdemokraten die Kosten-Nutzen-Bewertung nicht weit genug. Die ”besondere“ - also weitergehende Kosten-Nutzen-Bewertung - gebe es nur dort, wo es zu keiner Einigung zwischen Pharmaunternehmen und Krankenkassen komme.
Auch für die Grünen greift die Kosten-Nutzen-Bewertung zu kurz. Der Fehler sei, dass diese nur die Grundlage für Preisverhandlungen sein solle, aber nicht darüber entscheide, welche Medikamente überhaupt erstattet würden. Zudem lehnen die Grünen ab, dass bei den so genannten Orphan Drugs, also Medikamenten, die für die Behandlung seltener Krankheiten eingesetzt werden, Nutzenbewertungen erst vorgenommen werden sollen, wenn mit diesen ein Umsatz von jährlich 50 Millionen Euro erzielt werde.
SPD und Linke bezweifelten, dass die von den Koalitionsfraktionen angestrebten Einsparungen tatsächlich erreicht werden könnten. ”Zu lax“ und ”inkonsequent“ sei das Gesetz, hieß es aus den Reihen der Linksfraktion. Die FDP erwiderte, es seien viele Punkte aufgenommen worden, die die Opposition angeregt habe. Bei der Kosten-Nutzen-Bewertung könne ein Unternehmen künftig nur noch zwölf Monate ”seinen Preis“ bekommen, aber für ”viele, viele Jahre nicht mehr“. Da könne eben nicht mehr jeder ”das verlangen, was er will“; das sei doch ein ”epochaler Unterschied“ zur derzeitigen Situation.
Sie SPD legt im Plenum einen Änderungsantrag (17/3702) vor. Darin stellt sie unter anderem fest, dass Mehrkostenregelungen die Kalkulationsgrundlage und Planungssicherheit von Kassen und Herstellern gleichermaßen erschüttern und Rabattverträge unattraktiv machen.
Patientinnen und Patienten seien kaum in der Lage, den Wahrheitsgehalt von Marketingaktivitäten der Pharmafirmen zu bewerten. Neben den finanziellen Mehrkosten trügen Patientinnen und Patienten auch noch das Risiko, aus wirtschaftlichen Erwägungen weniger geeignete Arzneimittel zu erhalten, so die Sozialdemokraten.
(suk/ela)