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Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hat als erster hochranginger westlicher Gast Tunesien nach dessen Wahlen im Oktober einen Besuch abgestattet – als Signal der Solidarität und Unterstützung auf dem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft, die ein Vorbild werden könnte für die gesamte arabische Region. Ein Jahr nach dem Beginn des Arabischen Frühlings, der mit Massendemonstrationen in Tunis seinen Ausgang nahm, liegt das Land jedoch wirtschaftlich am Boden. Touristen, darunter jährlich Zehntausende aus Deutschland, bleiben aus.
„Tunesiens Landschaft hat nach der Revolution keineswegs an Schönheit verloren, vielmehr wird das Land deutlich attraktiver werden: politisch, wenn es gelingt, ein demokratisches System aufzubauen“, sagte Lammert dem tunesischen Fernsehen am Dienstag, 6. Dezember 2011. Befürchtungen, dass das nordafrikanische Land nach dem Sieg der islamischen Ennahda-Partei einen islamistischen Weg einschlagen könnte, wies Hamadi Jebali zurück. Tunesien werde weder ein religiöser noch ein militärischer Staat, versicherte der designierte Premier, der der populären, aber mehr und mehr kritisierten muslimischen Ennahda-Partei selbst angehört.
Der Präsident der Verfassunggebenden Versammlung, Mustafa Ben Jaafar, bat Deutschland um wirtschaftliche Unterstützung, sein Land benötige dringend Investitionen. Arbeitslosigkeit und Armut seien die drängendsten Probleme. Zudem soll innerhalb der nächsten zwölf Monate eine neue Verfassung erarbeitet werden. Ein Referendum findet dann statt, wenn weniger als zwei Drittel der Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung für den neuen Gesetzestext stimmen.
Moncef Marzouki, designierter Staatspräsident, berichtete von der Diskussion über das künftige politische System. Noch sei offen, ob Tunesiens staatliche Strukturen präsidial oder parlamentarisch geprägt sein werden. Der Bundestagspräsident wünschte der künftigen tunesischen Regierung ein starkes Parlament. Jedes Land habe zwar eine Regierung, aber nicht jedes ein freies und starkes Abgeordnetenhaus.
Lammert, sein Fraktionskollege, der CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz, sowie Josef Winkler, Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, standen in Tunis ausführlich Rede und Antwort über die deutschen Vorschriften zur Parteienfinanzierung, die Fünf-Prozent-Hürde bei Bundestagswahlen und andere praktische Fragen, die die neuen tunesischen Politiker im Hinblick auf von ihnen zu schaffenden Gesetze interessierten. Unter anderem wollen sie schon bald ein Wahl-, Parteien- und Pressegesetz formulieren. Ende 2012 sollen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden.
Ahmed Nejib Chebbi, Oppositionspolitiker und Gründer der „Parti Démocratique Progressiste“, äußerte im Gespräch mit den Abgeordneten des Bundestages seine Befürchtung, die siegreiche Ennahda-Partei könne ihre Macht missbrauchen und nach der Diktatur des vor einem Jahr aus dem Amt gefegten Ben Ali nun ein Ennahda-Regime installieren.
Seit einer Woche demonstrieren in Tunis vor der Verfassunggebenden Versammlung lautstark Hunderte von Menschen. Ihre Rufe waren im Gebäude, wo die neue tunesische Staatsführung ihre deutschen Gäste empfing, deutlich zu hören. Die Demonstranten befürchten die Islamisierung des Landes und wehren sich gegen die drohende Machtfülle, mit der der künftige Premier, ein Ennahda-Vertreter, ausgestattet werden soll.
„Der Sturz eines autoritären Regimes mündet nicht notwendigerweise in stabile demokratische Verhältnisse“, sagte Lammert mit Hinweis auf die deutsche Geschichte. Mehr als beispielsweise von Frankreich oder Italien, zu denen Tunesien traditionell enge Beziehungen unterhält, hoffen Politiker in Tunis, von den deutschen Erfahrungen bei der Wiedervereinigung profitieren zu können.
Es gebe keine Blaupause für die Schaffung demokratischer Verhältnisse, warnte der Bundestagspräsident, der Deutschlands Hilfe zusagte und unter anderem auf die arabischsprachigen Internetseiten des Bundestages verwies, auf denen Gesetzestexte oder auch die Geschäftsordnung des Parlaments zu finden seien. (sad)