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Außenpolitik ist nicht nur eine Domäne der Regierung. 54 Parlamentariergruppen und ein Freundeskreis pflegen die außenpolitischen Beziehungen des Bundestages zu den Parlamenten anderer Staaten. Eine davon ist die Deutsch-Baltische Parlamentariergruppe, die seit etwas mehr als 20 Jahren im engen Dialog mit den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen steht. Erstmals konstituierte sich die interfraktionelle Gruppe mit ihren damals 70 Mitgliedern am 11. Februar 1992, nur wenige Monate nachdem die Sowjetunion die Unabhängigkeit der drei Staaten am 21. August 1991 anerkannt hatte und die Union selbst am 21. Dezember 1991 aufgelöst wurde.
Eine politisch besonders intensive Zeit, in der die deutschen Parlamentarier ihren Kollegen in Estland, Lettland und Litauen beim Aufbau parlamentarisch-demokratischer Strukturen auch ganz konkret mit Rat und Tat zur Seite standen. "Es hat damals extrem viele Gespräche gegeben", weiß Dr. Christel Happach-Kasan. "Genauso war es auch, als in den drei baltischen Staaten die Referenden zum Beitritt in die Europäische Union stattfanden und sie 2004 schließlich Mitglied von EU und Nato wurden."
Die FDP-Politikerin ist seit Dezember 2002 Mitglied im Bundestag und übernahm zu dieser Zeit den Vorsitz in der Parlamentariergruppe. Noch gut erinnert sich an die ersten Monate in dieser Funktion: "Es verging keine Woche, in der wir nicht mit Parlamentariern aus den baltischen Ländern in Kontakt standen." Es habe viele Fragen an die deutschen Abgeordneten gegeben, so Happach-Kasan: "Wie ist das, wenn man EU- und Nato-Mitglied wird? Was haben wir zu erwarten, was müssen wir tun, was bringt das für unser Land? Und: Wie seht ihr das, als Parlamentarier? Das war von Anfang an eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit."
Sie ist es noch immer. Der Umgang unter den Parlamentariern ist freundschaftlich und unterstützend: So ermutigte Happach-Kasan, die selbst Mitglied im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist, Agrarpolitiker aus Lettland, bei der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU auf höhere Direktzahlungen für die lettische Landwirtschaft zu dringen.
"Die drei Länder sind, was die Zahlungen im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik angeht, deutlich benachteiligt", erklärt Happach-Kasan. "Und das habe ich auch so gesagt: 'Denken Sie daran, Sie hatten in der Sowjetunion keine Souveränität hinsichtlich der Agrarpolitik. Das muss jetzt bei der Bemessung der Direktzahlungen berücksichtigt werden.' Es gibt keinen Grund, die baltischen Länder schlechterzustellen als beispielsweise Polen."
Trotz solcher Ratschläge – vom gegenseitigen gedanklichen Austausch, den die Parlamentariergruppen fördern wollen, profitieren beide Seiten: Gerade in der gegenwärtigen Euro-Schuldenkrise lohne sich durchaus auch der Blick in Richtung Baltikum, wo bislang allein Estland den Euro als Währung eingeführt habe, so die Vorsitzende Happach-Kasan: "Es ist wirklich bewundernswert, wie das Land die Krise bewältigt." Nach der schweren Rezession habe das Land bereits begonnen, die vom Internationalen Währungsfonds gewährten Kredite abzuzahlen, und die Wirtschaft wachse wieder, so die FDP-Politikerin.
42 Mitglieder hat die Deutsch-Baltische Parlamentariergruppe in der laufenden 17. Wahlperiode des Bundestages. Dem Vorstand gehören neben Happach-Kasan auch Marie-Luise Dött (CDU/CSU), René Röspel (SPD) und Dr. Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen) an. Die Linksfraktion hat auf die Benennung eines Vorstandsmitglieds verzichtet.
Von Ausschusssitzungen und Arbeitskreistreffen im Bundestag unterscheiden sich die informelleren Treffen der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe deutlich. So finden sie beispielsweise nicht in einem Sitzungssaal im Bundestag statt – sondern meist in der Parlamentarischen Gesellschaft, direkt neben dem Reichtagsgebäude.
Auch kommen die Parlamentarier nicht in jeder Sitzungswoche zusammen, sondern tagen eher "anlassbezogen", wie die Vorsitzende Happach-Kasan erklärt. "Wir treffen uns als Gruppe mindestens einmal im Jahr, außerdem bei verschiedenen Anlässen in den Botschaften, zum Beispiel am jeweiligen Nationalfeiertag oder wenn Parlamentarier oder Mitglieder der Regierung in Deutschland zu Gast sind."
So wie am 24. April, wenn die litauische Parlamentspräsidentin Irena Degutienė im Bundestag erwartet wird. Zu solchen offiziellen Besuchen lädt der Bundestagspräsident auch die Vorsitzende der Parlamentariergruppe ein: Für Happach-Kasan ein willkommener Anlass die auswärtigen Kontakte zu pflegen: "Das ist ein Stückchen Außenpolitik des Bundestages. Wir fühlen uns als Parlamentariergruppe einem nicht festgeschriebenen, aber gelebten Grundkonsens deutscher Außenpolitik verpflichtet und sind uns bewusst, dass wir im Ausland die Bundesrepublik Deutschland vertreten."
Solche gegenseitigen Besuche sind wichtig, um den Dialog zwischen den Parlamentariern in Deutschland und denen in Estland, Lettland und Litauen lebendig zu halten. Einmal in der Legislaturperiode, also alle vier Jahre, reist deshalb auch eine Delegation von Bundestagsabgeordneten ins Baltikum. "In dieser Legislaturperiode werden wir sogar zweimal fahren", sagt Happach-Kasan. "Wir reisen in diesem Jahr nur nach Estland und Lettland. In Litauen finden Parlamentswahlen statt, deshalb fahren wir erst 2013 dorthin."
Diese Reisen nutzen die Abgeordneten, um das Gespräch nicht nur mit Parlamentariern, sondern auch mit Regierungsvertretern oder Repräsentanten der Zivilgesellschaft zu suchen. "Wir widmen uns natürlich insbesondere auch Themen, an denen beide Seiten ein großes Interesse haben", erklärt die Vorsitzende der Parlamentariergruppe. Bei der letzten Reise waren zum Beispiel die so genannten Twinning-Projekte der Europäischen Union ein Thema.
Ziel dieser Projekte ist es, neue EU-Mitglieder in der Angleichung an das europäische Recht zu unterstützen. Immer ein "Alt-EU-Land" steht einem Neumitglied beratend zur Seite. Deutschland engagiert sich so beispielsweise in Estland für die Reinhaltung der Ostsee und die Vermeidung von Schiffsunfällen, in Litauen, wo inzwischen eine große Lebensmittelindustrie entstanden ist, für Lebensmittelsicherheit.
Wie stabil durch solche Begegnungen die Beziehungen zwischen deutschen Abgeordneten und den Parlamentariern aus den drei baltischen Staaten sind, zeigte sich insbesondere in der Diskussion um die Ostseepipeline, deren Bau die Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Jahr 2005 forcierte und damit vor allem in Polen und in den drei baltischen auf Widerstand stieß.
Im November 2011 konnte die Fernleitung für Gas eingeweiht werden, anfangs jedoch gab es Proteste: Auch wegen ökologischer Bedenken zögerten vor allem die nordeuropäischen Ostsee-Anrainer, durch deren Territorium die Rohre verlegt werden sollten, dem Bau der Pipeline zuzustimmen. Hier konnten die deutschen Abgeordneten vermitteln: "Obwohl manchem von uns auch nicht gefiel, wie Schröder damals das Ganze eingefädelt hatte, so konnten wir doch die Parlamentarier beruhigen, dass es selbstverständlich ein ordentliches Verfahren geben würde, in dem alle Umweltaspekte beleuchtet würden", erinnert sich Happach-Kasan.
Das Wort der Abgeordneten hatte Gewicht: "Es ist schon etwas anderes für einen Abgeordneten, wenn ein Parlamentarier etwas sagt oder eine Regierung, die ein solche Projekt wie den Bau einer Pipeline politisch will."
Für die Vorsitzende ist dies ein gutes Beispiels für das, was die Parlamentariergruppen durch ihre Kontakte zu den Parlamentariern anderer Länder im Bundestag leisten können: "Wir machen keine Regierungspolitik, keine Oppositionspolitik. Es geht um die Verständigung zwischen Parlamentariern." (sas)