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Frank Schwabe ist stellvertretender Leiter der Bundestagsdelegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats. © DBT/photothek
Es müsse garantiert werden, dass als Folge des Pakts zwischen der EU und Ankara aus der Türkei keine Flüchtlinge in Länder abgeschoben werden, in denen sie nicht sicher sind, fordert Frank Schwabe im Interview. Der SPD-Abgeordnete: „Deshalb muss Vorwürfen von Amnesty International sehr sorgfältig nachgegangen werden, dass die Türkei Syrer abschiebe.“ Die Flüchtlingskrise ist eines der zentralen Themen der Frühjahrssession der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 18. bis 22. April 2016. Schwabe ist stellvertretender Leiter der Bundestagsdelegation in Straßburg. Das Interview im Wortlaut:
Herr Schwabe, die Europaratsabgeordneten wollen erneut stärkeres humanitäres Engagement für Flüchtlinge aus dem Vorderen Orient verlangen. Haben die bisherigen Appelle etwas zugunsten der Flüchtlinge bewirkt?
Es lässt sich trefflich spekulieren, welche Wirkungen die Forderungen unserer Parlamentarischen Versammlung haben. Aber wir können Aufmerksamkeit erzeugen und humanitäre Lösungen anmahnen. Direkte Konsequenzen hatte die Kritik Nils Muiznieks, des Menschenrechtsbeauftragten des Europarats, an illegalen Teilen des Flüchtlingsdeals zwischen der EU und der Türkei. Der Vorstoß Muiznieks führte zu Verbesserungen am Vertrag.
Fürchtet das Europaratsparlament, dass sich die Flüchtlingsströme aus der Ägäis auf Routen von Nordafrika nach Europa verlagern werden und dort eine noch schlimmere humanitäre Misere droht?
Natürlich wird es zu einer Verlagerung von Fluchtrouten kommen. Ich hoffe aber und erwarte, dass die Zahl der Flüchtlinge zurückgeht. Das liegt im besten Fall daran, dass es zumindest eine gewisse Eingrenzung der kriegerischen Handlungen in Syrien gibt und dass die humanitäre Hilfe besser wirkt. Wir müssen alles unternehmen, um Menschen zu retten, egal über welche Fluchtroute sie kommen.
Thema in Straßburg wird auch der Balkan sein, wo einige Länder ihre Grenzen dicht gemacht haben. Ist das eine berechtigte Notwehr angesichts des Massenandrangs von Flüchtlingen? Oder werden deren Grundrechte verletzt?
Mit den Grenzschließungen auf der Balkanroute stellt sich die EU mit ihren bisher vertretenen Werten selbst in Frage. Von „Notwehr“ kann keine Rede sein. In einem solidarischen Akt aller EU-Staaten könnte Brüssel sehr wohl eine adäquate Antwort auf das Elend der Flüchtlinge geben. Was wir im griechischen Idomeni erleben, führt uns das Scheitern der EU an einer überschaubaren Herausforderung vor Augen. Grundrechte werden dann verletzt, wenn Menschen Schutz vorenthalten wird, auf den sie nach internationalen Abkommen ein Recht haben.
Wie beurteilt man in der Parlamentarischen Versammlung das Abkommen zwischen der EU und der Türkei? Ist dieser Vertrag mit rechtsstaatlichen Standards des Europarats vereinbar?
Beim Europarat ist es wie bei der EU. Natürlich sind alle Mitglieder Werten verpflichtet, die in der Menschenrechtskonvention verankert sind. Diese Charta ist wie andere internationale Schutzabkommen als bittere Lehre von 50 Millionen Toten während des Zweiten Weltkriegs entstanden. Aber leider führt die Zugehörigkeit zum Europarat und zur EU nicht in jedem Fall dazu, dass diese Werte auch gelebt werden. Deshalb müssen wir kritisch die Grundbedingungen für den Vertrag zwischen der EU und Ankara prüfen. Eine dieser Voraussetzungen ist zum Beispiel, dass in der Türkei alle Flüchtlinge, Syrer und Nichtsyrer, ausreichenden Schutz genießen und auf keinen Fall in Länder abgeschoben werden, in denen sie nicht sicher sind. Deshalb muss Vorwürfen von Amnesty International sehr sorgfältig nachgegangen werden, dass die Türkei Syrer abschiebe.
Was erwarten Sie vom Auftritt Jean-Claude Junckers, des Präsidenten der EU-Kommission, vor den Abgeordneten?
Eine klare Antwort auf die Frage, ob und wie die Bedingungen des Abkommens mit der Türkei erfüllt werden. Außerdem muss in den EU-Staaten die Hilfe für Flüchtlinge gut organisiert werden. Das betrifft zurzeit besonders Griechenland, kann aber ganz schnell ebenso wieder für Italien gelten. Teil des skandalösen unsolidarischen Handelns der Länder an der Balkanroute ist doch auch dies: Diese Staaten wissen, dass sich Griechenland und Italien anders als sie selbst nicht gegen Flüchtlinge abzuschotten vermögen, weil an Stränden keine Zäune errichtet werden können. Im Übrigen muss Juncker erklären, wie die EU ihre verlorenen Werte zurückgewinnen kann.
Die Flüchtlingskrise ließ den Ukraine-Konflikt in den Hintergrund geraten. Entgegen diesem Trend will das Europaratsparlament auch über das Schicksal der während des Waffengangs in der Ukraine gekidnappten Personen diskutieren. Ist das ein massives Problem?
Wir müssen von Hunderten Verschleppten ausgehen. Auf beiden Seiten gibt es massive Menschenrechtsverletzungen. Kürzlich wurde ein Anwalt ermordet, der in der Ukraine einen Angeklagten verteidigen sollte, der angeblich russischer Agent sein soll. In Russland findet ein Schauprozess gegen die entführte ukrainische Pilotin Nadija Sawtschenko statt, die auch Abgeordnete in unserer Parlamentarischen Versammlung ist. Sie muss umgehend freigelassen werden.
(kos/15.04.2016)