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In einer solidarischen Aktion haben sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages für den Erhalt der von ruinösem Dumping-Wettbewerb und Überkapazitäten geplagten Stahlindustrie in Europa und Deutschland ausgesprochen. „Euer Schicksal ist uns nicht egal“, rief der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Hubertus Heil, den auf der Tribüne sitzenden Stahlarbeitern zu, die die Kernzeitdebatte am Donnerstag, 28. April 2016, direkt vor Ort verfolgten. Auch Kerstin Andreae (Bündnis 90/Die Grünen) versicherte: „Wir lassen Euch nicht im Regen stehen!“
Insgesamt drei Anträge – ein gemeinsamer Antrag von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD (18/8238) sowie je ein Antrag von der Fraktion die Linke (18/8237) und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (18/8240) – lagen dem Bundestag zur Situation der Stahlindustrie vor. In allen Anträgen wurde die Bedeutung der Stahlindustrie gewürdigt und eine Sicherung der Arbeitsplätze verlangt. Der Antrag der Koalitionsfraktionen wurde gegen die Stimmen der Linksfraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beschlossen. Die Oppositionsanträge wurden mit Koalitionsmehrheit abgelehnt, wobei sich die Grünen beim Antrag der Linken und die Linke beim Antrag der Grünen enthielten.
In dem Antrag der Koalitionsfraktionen heißt es, Stahlprodukte aus der Volksrepublik China würden durch staatliche Maßnahmen verbilligt und teilweise unter den Herstellungskosten angeboten. Zwar seien von der EU Antidumpingverfahren eingeleitet und Strafzölle verhängt worden. Das Instrumentarium der europäischen Außenhandelspolitik habe sich aber teilweise als schwerfällig erwiesen, und die Höhe der Antidumpingzölle sei noch nicht ausreichend, kritisieren die Fraktionen.
Außerdem wird verlangt, dass bei den anstehenden Novellen des Strommarkt- und des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) "dem Ziel bezahlbarer Energiepreise im Sinne eines wettbewerbsfähigen Industriestandortes" besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll, weil dies auch grundlegende Voraussetzung für Zukunftsinvestitionen im Stahlsektor am Standort Deutschland sei. Darüber hinaus sei die Stahlindustrie ein wichtiger Arbeitgeber. In Deutschland seien rund 90.000 und in Europa über 330.000 Menschen direkt in der Stahlindustrie beschäftigt. Viele tausend Arbeitsplätze in Zuliefer- und Dienstleistungsbetrieben würden von der Stahlindustrie abhängen.
Heil versicherte: „Wir geben die Stahlindustrie in Deutschland nicht kampflos preis.“ Die Stahlindustrie sei Grundlage für die industrielle Basis in Deutschland. Da die gesamte Wertschöpfungskette hierzulande vorhanden sei, sei Deutschland besser durch die Krise gekommen als andere Volkswirtschaften. „Es gibt keinen industriellen Fortschritt ohne Stahl, und auch deshalb gucken wir nicht tatenlos zu, wie industrielle Kapazitäten vernichtet werden“, sagte Heil.
Klaus Ernst (Die Linke) erinnerte an die schwersten Arbeitsbedingungen in der Stahlindustrie: „Hitze, Staub, Lärm.“ Auch deshalb hätten die Menschen den Schutz der Politik verdient. Ein weiterer Belastungsfaktor für die Stahlindustrie sei aber die schwache Konjunktur, die zu einer schwachen Nachfrage nach Stahl führe. „Wer ganz Europa eine Austeritätspolitik aufzwingt, dämpft die Nachfrage in Europa“, sagte Ernst an die Adresse der Koalition. Und wer die „schwarze Null“ wie eine Monstranz vor sich hertrage, dämpfe die Nachfrage und sei für die Situation in der Stahlindustrie mit verantwortlich: „Das ist die Wahrheit.“
Ernst stimmte der Aussage der Koalition zu, dass Stahl in Deutschland umweltfreundlicher produziert werde als in China. Deshalb müsse verhindert werden, „dass umweltfreundliche und besser bezahlte Arbeitsplätze verschwinden zugunsten einer Stahlproduktion zu Dumpingbedingungen und Belastung der Umwelt“.
Diesen Punkt griff auch der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Dr. Michael Fuchs, auf. Er verwies darauf, dass für die Produktion einer Tonne Stahl in Deutschland 1.500 Kilogramm Kohlendioxid freigesetzt würden, in China seien es 2.200 Kilogramm. „Wir helfen dem Klima überhaupt nicht, wenn Produktionen aus Deutschland verschwinden und in anderen Ländern gemacht werden“, sagte Fuchs.
Zugleich sprach er die hohen Energiepreise in Deutschland an und warnte vor weiteren Belastungen: Auch wenn die Produktion nach Belgien oder Polen gehe, sei dem Klima nicht geholfen, „aber unserer Stahlindustrie gehen die Arbeitsplätze weg. Das wollen wir nicht“.
Kerstin Andreae (Bündnis 90/Die Grünen) warnte davor, „zu vermischen, was nicht vermischt werden darf“. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) habe festgestellt, dass 2015 über 700 Millionen Tonnen Stahl zu viel auf dem Markt gewesen seien. China und Russland würden mit subventionierten Produkten auf den Markt drängen. Das sei nicht im Sinne einer Marktwirtschaft. Aber Überkapazitäten hätten nichts mit Emissionshandel zu tun. Das akute Problem seien unfaire Handelspraktiken. In der EU betrage der Zoll auf chinesische Stahlimporte 20 Prozent, in den USA 250 Prozent.
„Solange das so ist, wissen wir wo der Stahl am Ende landet“, sagte Andreae. Sie sprach auch die Stärkung der Nachfrage an. „Stahl muss in Deutschland bleiben. Wir wollen keine Abwanderung“, sagte sie und nannte einen „ganz grünen Grund“: In einer Windkraftanlage stecke mehr Stahl als in 500 Autos. Die ökologische Modernisierung sei ein gigantisches Konjunkturprogramm für die Stahlindustrie, die aber klimafreundlich werden müsse.
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) kritisierte die langen Entscheidungswege für höhere Schutzzölle in Brüssel. Er bezeichnete es als „skandalös, dass wir in Europa für etwas, wofür die USA neun Monate brauchen, 20 Monate brauchen“. Man müsse den Mut haben, sich gegenüber China „offensiv aufzustellen“. In Wahrheit hätten alle Angst, dass die Chinesen auf Maßnahmen zum Schutz der Stahlindustrie mit anderen Maßnahmen antworten würden, „und wir dann in einem Handelskrieg landen“.
Aber man müsse ganz klar sagen: „Es kann keinen Marktwirtschaftsstatus für China geben, wenn sich China nicht an die Regeln von Marktwirtschaften hält.“ Wer gegen Regeln verstoße, „dem darf man keinen freien Handel ermöglichen“, forderte Gabriel.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag die Regierung auf, für einen fairen Wettbewerb auch durch Schutzzölle zu sorgen. Außerdem müsse dafür gesorgt werden, dass in der gegenwärtigen Lage die Wettbewerbsposition der deutschen und europäischen Stahlindustrie nicht durch staatliche Maßnahmen verschlechtert werde.
Investitionen in die öffentliche Infrastruktur müssten verstärkt werden, "um die in den vergangenen Jahren aufgelaufene Investitionslücke zu füllen und auch auf diesem Wege die Nachfrage nach Stahl wieder zu erhöhen", fordern die Abgeordneten.
Die Bundesregierung solle sich für den Erhalt einer starken, innovativen und wettbewerbsfähigen Stahlindustrie einsetzen, "um unter Berücksichtigung der Klimaschutzverpflichtungen aus dem Abkommen von Paris eine umweltfreundliche und klimaneutrale europäische Stahlproduktion zu ermöglichen", fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag.
Außerdem soll sich die Bundesregierung OECD-weit für den Abbau von Überkapazitäten bei der Stahlerzeugung einsetzen und einer bedingungs- und vorbehaltlosen Erteilung des Marktwirtschaftsstatus für die Volksrepublik China widersprechen. Eine nationale und europäische Modernisierungsstrategie soll helfen, die Stahlindustrie "zum Technologieführer in Sachen Emissionsminderung, Energie- und Materialeinsparung, Recycling und Sektor übergreifender Kooperation, zum Beispiel mit der Chemieindustrie, zu machen". (hle/28.04.2016)