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Nach Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom Dienstag, 3. Mai 2016, enthält das Grundgesetz kein Gebot zur Schaffung spezifischer Oppositionsfraktionsrechte. Das Grundgesetz begründe weder explizit spezifische Rechte, noch ließe sich ein Gebot der Schaffung solcher Rechte aus dem Grundgesetz ableiten (Aktenzeichen: 2 BvE 4/14).
Zwar enthalte das Grundgesetz einen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisierten allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition. Dieser Grundsatz umfasse jedoch kein Gebot spezifischer Oppositionsfraktionsrechte. Unabhängig davon sei die Einführung spezifischer Oppositionsfraktionsrechte mit der Gleichheit der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse nach Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz unvereinbar. Einer Absenkung der grundgesetzlich vorgegebenen Quoren für die Ausübung parlamentarischer Minderheitenrechte stehe die bewusste Entscheidung des Verfassungsgebers entgegen.
Die Fraktion Die Linke hatte eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht angestrengt, weil sie ihre Minderheiten- und Oppositionsrechte im Deutschen Bundestag in der 18. Wahlperiode eingeschränkt sah. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im 18. Deutschen Bundestag entfallen auf die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen 127 der 631 Sitze. Damit erreichen die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen die im Grundgesetz und einfachgesetzlich verankerten Quoren für die Ausübung bestimmter Minderheitenrechte nicht.
Ein gemeinsamer Gesetzentwurf zur „Sicherung der Oppositionsrechte in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages“ (18/380) der Oppositionsfraktionen vom 29. Januar 2014 und ein am 18. März 2014 von der Linksfraktion eingebrachter Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23, 39, 44, 45a, 93)“ (18/838) waren am 3. April 2014 mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD abgelehnt worden.
Demnach sollten auf Grundlage des gemeinsamen Entwurfs insgesamt sechs Gesetze dahingehend geändert werden, dass für die Dauer der 18. Wahlperiode die in diesen Gesetzen geregelten Minderheitenrechte von mindestens zwei Fraktionen gemeinsam ausgeübt werden können, die nicht die Bundesregierung tragen. Darüber hinaus sah der Entwurf der Linken eine auf der Ebene der Verfassung angesiedelte Zuweisung von Rechten an die „Gesamtheit der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen“, vor.
Demgegenüber brachten am 11. Februar 2014 die Koalitionsfraktionen einen Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO) „zur besonderen Anwendung der Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode“ (18/481) ein und beschloss stattdessen, die GO um § 126a mit dem Titel „Besondere Anwendung von Minderheitsrechten in der 18. Wahlperiode“ zu ergänzen.
Demnach sollen im Bundestagsplenum bestimmte Minderheitenrechte von mindestens 120 Abgeordneten ausgeübt werden können, während bestimmte Minderheitenrechte in Ausschüssen des Bundestages jeweils „allen Ausschussmitgliedern der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen“, zugewiesen wurden. Keine Änderungen sieht der eingefügte § 126a GO hinsichtlich der Antragsberechtigung für die abstrakte Normenkontrolle vor.
Die Fraktion Die Linke sah dadurch das Demokratieprinzip und die Grundsätze des parlamentarischen Regierungssystems durch den Bundestag verletzt und betrachtete die Einfügung des § 126a GO als verfassungswidrig, da von grundgesetzlichen Quoren nicht durch Regelungen auf Ebene der Geschäftsordnung abgewichen werden dürfe.
Wegen der größtenteils mangelnden Zuweisung spezifischer Oppositionsfraktionsrechte sei die gewählte Lösung zudem verfassungsrechtlich unzureichend. Auch und gerade eine „Kleine Opposition“ benötige einklagbare effektive Mitwirkungs- und Kontrollrechte gegenüber der Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit.
Das Bundesverfassungsgericht sieht den Deutschen Bundestag jedoch nicht in der Pflicht, seine Kontrollfunktion durch Einräumung der von der Linksfraktion begehrten Oppositionsrechte auf Verfassungsebene zu „effektuieren“. Zudem enthalte das Grundgesetz einen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisierten allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition. Der verfassungsrechtliche Schutz der Opposition wurzele im Demokratieprinzip.
Aus dem Mehrheitsprinzip und den parlamentarischen Minderheitenrechten folge der Respekt vor der Sachentscheidung der parlamentarischen Mehrheit und die Gewährleistung einer realistischen Chance der parlamentarischen Minderheit, zur Mehrheit zu werden. Dahinter stehe die Idee eines offenen Wettbewerbs der unterschiedlichen politischen Kräfte, welcher namentlich voraussetzt, dass die Opposition nicht behindert wird. Demgemäß ist die Bildung und Ausübung einer organisierten politischen Opposition konstitutiv für die freiheitliche demokratische Grundordnung.
Der im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz der Gewaltenteilung habe den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems Rechnung zu tragen, wie sie durch das Grundgesetz und die politische Praxis ausgestaltet werden. Weil danach die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung unerlässlich sei, stellen die Abgeordneten und Fraktionen, die nicht die Regierung tragen, die natürlichen Gegenspieler von Regierung und regierungstragender Mehrheit dar. Damit die Opposition ihre parlamentarische Kontrollfunktion erfüllen kann, müssen die im Grundgesetz vorgesehenen Minderheitenrechte auf Wirksamkeit hin ausgelegt werden.
Es gelte der Grundsatz effektiver Opposition. Sie dürfe bei der Ausübung ihrer Kontrollbefugnisse nicht auf das Wohlwollen der Parlamentsmehrheit angewiesen sein. Denn die Kontrollbefugnisse sind der parlamentarischen Opposition nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern in erster Linie im Interesse des demokratischen, gewaltengegliederten Staates – nämlich zur öffentlichen Kontrolle der von der Mehrheit gestützten Regierung und ihrer Exekutivorgane – in die Hand gegeben. Der Grundsatz der Gewaltenteilung im parlamentarischen Regierungssystem gewährleiste daher die praktische Ausübbarkeit der parlamentarischen Kontrolle gerade auch durch die parlamentarische Opposition.
Die zentrale Rolle der parlamentarischen Opposition bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrollfunktion spiegele sich auch im verfassungsrechtlichen Rechtsschutzsystem wider: Zum einen bestehe ein parlamentarisches Minderheitenrecht hinsichtlich der abstrakten Normenkontrolle aus der Mitte des Bundestages. Zum anderen seien subjektive Rechtsstellungen im innerparlamentarischen Bereich über die Antragsberechtigung im Wege des Organstreitverfahrens durchsetzbar. Darüber hinaus eröffne die Möglichkeit einer prozessstandschaftlichen Geltendmachung der Rechte des Bundestages der organisierten parlamentarischen Minderheit als dem Gegenspieler der Regierungsmehrheit ein effektives Eintreten für die parlamentarische Kontrollfunktion.
Das individuelle Recht zum – sowohl strukturellen als auch situativen – parlamentarischen Opponieren gegen die politische Linie von Regierung und regierungstragender Mehrheit gründe in der in Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz garantierten Freiheit und Gleichheit der Abgeordneten, die als Vertreter des ganzen Volkes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Diese Freiheit werde durch die nach Artikel 46 Grundgesetz gewährleistete Indemnität und Immunität und das Zeugnisverweigerungsrecht eines jeden Abgeordneten nach Artikel 47 Grundgesetz abgesichert und sei gerade für die Opposition von besonderer Bedeutung.
Das Grundgesetz begründe jedoch weder explizit spezifische Oppositions(fraktions)rechte, noch lasse sich ein Gebot der Schaffung solcher Rechte aus dem Grundgesetz ableiten. Vielmehr vollziehe sich die Ausgestaltung von Rechten der parlamentarischen Opposition innerhalb der Ordnung des Grundgesetzes über die Rechte qualifizierter parlamentarischer Minderheiten. Die Qualifizierung der mit diesen besonderen Rechten ausgestatteten Minderheiten bestehe in der Erreichung eines bestimmten Quorums an Mitgliedern des Bundestages.
In keiner grundgesetzlichen Bestimmung werde eine bestimmte Anzahl an Fraktionen mit besonderen Rechten ausgestattet. Das Grundgesetz habe sich demnach dafür entschieden, die Ausübbarkeit parlamentarischer Minderheitenrechte nicht auf oppositionelle Akteure – wie etwa die Oppositionsfraktionen – zu beschränken, sondern die parlamentarischen Minderheitenrechte Abgeordneten, die bestimmte Quoren erfüllen, ohne Ansehung ihrer Zusammensetzung zur Verfügung zu stellen.
Einer Einführung spezifischer Oppositionsfraktionsrechte stünde zudem Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz entgegen. Allein den Oppositionsfraktionen zur Verfügung stehende Rechte würde eine nicht zu rechtfertigende Durchbrechung des Grundsatzes der Gleichheit der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse darstellten. Jeder Abgeordnete sei berufen, an der Arbeit des Bundestages, seinen Verhandlungen und Entscheidungen teilzunehmen. Dies gelte namentlich für die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung. Demzufolge sei auch den Abgeordneten, die strukturell die Regierung stützen, die Möglichkeit eines Opponierens im Einzelfall eröffnet. Diese Maßstäbe würden auch für Fraktionen gelten, deren Rechtsstellung ebenfalls in Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz begründet ist.
Eine Durchbrechung des Grundsatzes der Gleichheit der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse sei nur bei Vorliegen besonderer Gründe verfassungsrechtlich gerechtfertigt, die ihrerseits durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein müssen, das der Gleichheit der Abgeordneten die Waage halten kann. Eine ausführliche Begründung und mehr Informationen zum Urteil lesen Sie in der Pressemitteilung Nr. 22/2016 vom 3. Mai 2016 und Pressemitteilung Nr. 83/2015 vom 12. November 2015 im Internetauftritt des Bundesverfassungsgerichts. (03.05.2016)