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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) hält eine Zusammenarbeit mit der Türkei für unverzichtbar, um die Flüchtlingsströme in Richtung Europa einzudämmen. „Die Türkei spielt in dieser Situation eine Schlüsselrolle“, erklärte sie am Donnerstag, 15. Oktober 2015, im Bundestag in ihrer Regierungserklärung zum EU-Gipfel am 15. und 16. Oktober in Brüssel. Priorität habe die Verbesserung des Grenzschutzes und die gemeinsame Bekämpfung der Schlepperbanden. Es sei „nicht hinnehmbar, dass diese schmale Meeresrinne, die zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln und damit zwischen zwei Nato-Partnern liegt, im Augenblick von Schleppern beherrscht wird“.
Merkel, die am 18. Oktober in die Türkei reist, um Gespräche mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu führen, zeigte Verständnis für Bedenken, ob es Europa gelinge, gegenüber der Türkei die eigenen Werte zu behaupten. Sie sicherte jedoch zu, dass sie in Istanbul alle Fragen ansprechen werde, den Syrien-Konflikt, genauso wie die Visa-Freiheit, sichere Herkunftsstaaten, den gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus und die Menschenrechtslage in der Türkei. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei würden weiterhin „ergebnisoffen“ geführt.
Merkel appellierte aber auch an die EU-Mitgliedstaaten, sich mehr für die Sicherung der EU-Außengrenzen einzusetzen und Personal zur Bewältigung des Flüchtlingsandrangs zu entsenden. Obwohl die EU-Kommission bis zu 1.100 Personen angefordert habe, hätten sich bisher nur wenige Länder gemeldet, darunter Deutschland und Österreich. Dies sei „enttäuschend“, sagte die Regierungschefin und forderte mit Blick auf den EU-Gipfel am 15. und 16. Oktober: „Ich erwarte von diesem Rat, dass alle einen Beitrag dazu leisten.“
Als Beispiele nannte sie die Stärkung der EU-Grenzschutzagentur Frontex sowie die Einrichtung der so genannten Hotspots in Griechenland und Italien, in denen Flüchtlinge noch an den Außengrenzen registriert und auf ihre Schutzbedürftigkeit überprüft werden sollen. Sie sollen ihren Angaben zufolge spätestens Ende November voll funktionsfähig sein.
Außerdem stellte Merkel den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens mehr Geld in Aussicht. „Sollte sich herausstellen, dass die Zusagen gerade auch mit Blick auf den anstehenden Winter nicht ausreichen, die Lebensmittelleistungen zu erhöhen, dann werden wir weitere Mittel einsetzen.“ Bislang hat die EU im Eilverfahren 200 Millionen Euro zur Unterstützung der Hilfsorganisationen vor Ort genehmigt, im nächsten Jahr soll es zusätzliche 300 Millionen Euro geben.
Die Oppositionsfraktionen sprachen sich ebenfalls für eine bessere Ausstattung der Flüchtlingslager im Libanon, Jordanien und der Türkei aus, kritisierten aber auch die angestrebte Zusammenarbeit mit der Türkei. Dr. Sahra Wagenknecht sprach in ihrer ersten Rede als neu gewählte Fraktionsvorsitzende der Linken von „unseriösen“ Zusagen für das Welternährungsprogramm und das UN-Flüchtlingshilfswerk. Damit könnten die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in und um Syrien nicht verbessert werden. Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, forderte, mehr Druck auf die Staatengemeinschaft auszuüben, damit sie tatsächlich Geld an die Organisationen überweisen.
Merkels Reise in die Türkei kurz vor den Parlamentswahlen verurteilten Wagenknecht und Göring-Eckardt als „Wahlkampfhilfe“ beziehungsweise „Wahlkampfgeschenk“ für Erdoğan. „Die Hunderttausenden, die auf der Flucht sind, werden wir nicht auf arme und fragile Staaten abwälzen könne“, sagte Göring-Eckardt. „Da hilft auch kein schmutziger Deal mit Erdoğan.“
Beide kritisierten, dass Erdoğan die Pressefreiheit abschaffe und das Land durch die Aufkündigung des Friedensprozesses mit den Kurden an den Rand eines Bürgerkrieges bringe. Wagenknecht warf Erdoğan zudem vor, den Islamischen Staat direkt und indirekt unterstützt zu haben und noch immer zu unterstützen. Es sei eine „humanitäre Bankrotterklärung“, die Türkei jetzt zum großen Partner in der Flüchtlingskrise machen zu wollen.
Die Linke-Politikerin warf der EU außerdem vor, vor allem in die Abschottung der EU-Außengrenzen zu investieren. Was gerade geschehe, sei „ein Konjunkturprogramm für die Stacheldrahthersteller und die Schleusermafia“, beklagte Wagenknecht und sprach von einem „Armutszeugnis für Europa“.
Unionsfraktionschef Volker Kauder warnte hingegen davor, die geplanten Hotspots zu diffamieren. Als erste Anlaufstellen in Italien und Griechenland würden sie bei der Registrierung und Unterbringung von Flüchtlingen helfen. Außerdem könne Schengen nur funktionieren, „wenn jeder die Außengrenze sichert, die er hat“. Dafür müsse Europa angesichts der großen Zahl der Flüchtlinge gemeinsam Verantwortung tragen.
Die geplante Vereinbarung mit der Türkei verteidigte Kauder ausdrücklich. Das Land spiele eine wesentliche Rolle in der Flüchtlingsfrage, mit ihr nicht zu reden, wäre „eine Form der Politikverweigerung“. Zudem bezeichnete er die Ankündigung der Kanzlerin, bei ihrem Gespräch mit Erdoğan kein Thema ausblenden zu wollen, als „mutig“.
Einig war sich Kauder mit der Opposition in seinem Urteil über die Lage in den Flüchtlingslagern rund um Syrien. Diese sei „ein Skandal“. Er erwarte von der Europäischen Union, das Geld zur Verfügung zu stellen, „das notwendig ist, um eine ordentliche Existenz zu sichern“.
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann forderte außerdem die EU auf, ihren Haushalt auf den Prüfstand zu stellen. Dieser sei „völlig aus der Zeit gefallen“. Statt 40 Prozent der Mittel in Agrarsubventionen zu stecken, müsste Europa viel mehr Geld in Migration und Entwicklungszusammenarbeit investieren.
Wie Kauder kam Oppermann zu dem Schluss, dass „Schengen fallen“ wird, wenn die EU-Außengrenzen offen bleiben. Aber in Anspielung auf die von der Union geforderten Hotspots machte er auch deutlich, dass es „Grenzhaftlager“ für Tausende von Flüchtlingen mit der SPD nicht geben werde. Europa müsse den Flüchtlingszustrom in geordnete Bahnen lenken, dürfe sich aber nicht abschotten. Mittelfristig sei ein europäisches Asylsystem mit gemeinsamen Standards und europäischen Gerichten notwendig. (joh/15.10.2015)