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Paris ist eine wunderschöne Stadt, aber Berlin hat mehr Lebensqualität. Dieses gastgeberfreundliche Urteil fällt Edouard Ohleyer, der in Villennes-sur-Seine – unweit der französischen Hauptstadt – aufgewachsen ist, über seinen derzeitigen Aufenthaltsort. Seit vergangenem Oktober ist der junge Franzose in Berlin und nimmt am Programm des Internationalen Parlamentsstipendiums (IPS) teil, das für Franzosen traditionell ein paar Monate länger läuft.
Das Leben in der deutschen Hauptstadt findet er viel entspannter als das in der französischen Metropole. „Hier ist es nicht so teuer und es gibt innerhalb der Stadt auch mehr Vielfalt als in Paris.“ Geht es nach Edouard Ohleyer soll die Zeit in Berlin auch nach Ende des IPS nicht beendet sein. „Ich könnte mir sehr gut vorstellen, hier zu bleiben und beispielsweise im Büro eines Bundestagsabgeordneten zu arbeiten“, sagt der 23-Jährige, der im vergangenen Jahr sein Studium an der Sciences Po in Lille und der Universität Münster mit dem Master-Abschluss beendet hat.
Erfahrungen, was den Umgang mit Abgeordneten angeht, kann er schon vorweisen. Im Jahr 2014 arbeitete er einige Monate im Abgeordnetenbüro des ehemaligen französischen Landwirtschaftsministers Dominique Bussereau. Noch bis Ende Juli wird er nun im Büro von Andreas Jung (CDU/CSU) sein IPS-Praktikum absolvieren. „Das passt super“, sagt er. Nicht zuletzt auch, weil Jung als durchaus frankophil gelten darf. Schließlich ist er Vorsitzender der deutsch-französischen Parlamentariergruppe.
Nationalversammlung in Paris – Bundestag in Berlin – welche Unterschiede hat er ausgemacht? Zuallererst mal einen, der die Kleiderordnung betrifft. „Im Bundestag laufen einige Mitarbeiter in Nichtsitzungswochen auch mal im T-Shirt herum“, hat er wohlwollend beobachtet. In der Assemblée nationale nicht vorstellbar. Das höchste der Gefühle sei dort der abgelegte Schlips. „Hemd und Anzug sind Standard“, sagt er. Und noch etwas ist aus seiner Sicht anders. Deutsche Abgeordnete seien volksnäher – ihre französischen Kollegen eher distanzierter.
Interessante Beobachtungen von einem, der die deutsch-französische Freundschaft sozusagen aus der Familie kennt. Seine Oma ist Deutsche, geboren im sächsischen Zwickau. „Mit ihr habe ich immer Deutsch gesprochen“, erzählt er. Von ihr hat er auch das Interesse an der Geschichte der DDR. Beleg dafür: Edouard Ohleyer hat seine Bachelor-Arbeit zum Thema „Sportpolitik in der DDR“ geschrieben.
Ungewöhnlich für einen Franzosen, oder? „Mich hat schon immer fasziniert, wie ein Land mit nur 16 Millionen Einwohnern jahrzehntelang beim olympischen Medaillenspiegel auf den vordersten Plätzen liegen konnte“, erläutert der 23-Jährige seine Beweggründe. Die einfache Antwort, weil im Osten Deutschlands seinerzeit flächendeckend gedopt wurde, lässt er nicht gelten. „Ich glaube nicht, dass ausschließlich Doping verantwortlich für die Erfolge war“, sagt er. Vielmehr sei die Sportpolitik in der DDR darauf ausgerichtet gewesen, Talente möglichst früh zu erkennen und zu fördern.
Edouard Ohleyer liegen aber nicht nur die deutsch-französischen Beziehungen am Herzen – er sieht sich als „begeisterter Europäer“. Derzeit gebe es zwar viel Kritik an der Europäischen Union. „Es gibt aber auch viel, was für sie spricht“, findet der junge Franzose. Europa stehe für Frieden, für Freiheit, für den Austausch zwischen den Nationen und für eine gemeinsame Währung. „Ich bin sicher, dass Europa in eine paar Jahren stärker denn je dasteht“, gibt er sich optimistisch.
Dass es mit der Solidarität innerhalb der EU in Sachen Aufnahme von Flüchtlingen derzeit hapert, hat er natürlich zur Kenntnis genommen. Auch Frankreich hat sich nicht gerade durch eine große Aufnahmebereitschaft hervorgetan. Edouard Ohleyer begründet das mit der innenpolitischen Situation. „In Frankreich ist die wirtschaftliche Lage sehr schlecht. Vor dem Hintergrund, dass jetzt schon 30 Prozent Front National wählen, hätte die Regierung nicht sagen können, wir nehmen 500.000 Flüchtlinge auf.“ Das hätte dem Front National sofort zehn Prozent mehr beschert, da ist er sich sicher.
Nächstes Jahr sind Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Kann er sich vorstellen, dass Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front National, gewählt wird. Ein klares Nein kommt als Antwort. Seine Erwartung ist, dass Le Pen die zweite Wahlrunde erreichen wird, „wahrscheinlich sogar mit den meisten Stimmen“. Dennoch sieht er keine Chance für sie, 2017 die absolute Mehrheit in der zweiten Wahlrunde zu erhalten. „Es geht also im Grunde darum, wer in der ersten Runde zweiter hinter Le Pen wird – der wird dann nämlich Präsident“, sagt er.
2022 könne das natürlich ganz anders aussehen, sagt Edouard Ohleyer. Es seien immer mehr Arbeiter und kleine Angestellten, die früher linke Parteien gewählt haben, die sich nun für den Front National entscheiden würden. „Ich habe im Norden Frankreichs studiert, der Hochburg des Front National. Dort habe ich festgestellt, dass viele der Unterstützer keine Rassisten sind, sondern sich abgehängt fühlen und das Vertrauen in die Politik der Altparteien verloren haben“, sagt der 23-Jährige. Ziel müsse es nun sein, ihnen zu erklären, „dass das keine gute Lösung ist“.
Probleme hat Frankreich aber nicht nur mit den Nationalisten, sondern auch mit dem islamistischen Terror. Hat er eigentlich Angst wenn er sich in Paris bewegt nach den Anschlägen im vergangenen November? „Angst nicht, aber ich denke oft daran, was passieren könnte“, erläutert er seine Gefühlswelt. Nun steht die Fußball-Europameisterschaft vor der Tür. Für den Sportfan Edouard Ohleyer ein großes Ereignis, dass er sich durch Terrorängste nicht zerstören lassen will. „Ich habe Tickets für das Eröffnungsspiel, und ich werde auch hingehen“, stellt er klar.
Dass sich die islamistischen Terrorzellen derzeit auf Frankreich und Belgien konzentrieren, hält er nicht unbedingt für Zufall. „Man muss sagen, dass in Belgien und bei uns die Integration nicht so geklappt hat, wie es hätte sein müssen“, räumt er ein. Nicht vergessen dürfe man: „Die Terroristen sind Franzosen und Belgier in der dritten Generation – keine Ausländer, wie manchmal gesagt wird.“
Edouard Ohleyer selbst hat kaum negative Erfahrungen mit arabischstämmigen Franzosen gemacht. Er weiß aber, das es Orte gibt, wo keine Integration stattfindet – wo sogar die Polizei nicht mehr hingeht. „Da muss die Politik etwas tun, sonst wird es immer schlimmer“, findet er. Alle müssten sich integriert fühlen.
Eine Benachteiligung arabischstämmiger Jugendlicher im französischen Bildungssystem vermag er gleichwohl nicht zu erkennen. „Wenn die Eltern lange arbeiten müssen und zuhause keiner Zeit hat, sich um das Heranwachsen und die Schulprobleme zu kümmern, ist das sicherlich ein Problem“, sagt er. Wer es aber wirklich schaffen will, der könne es in Frankreich auch schaffen, ist er sich sicher. „Für einige sind die Hürden höher – hier muss die Politik Chancengleichheit schaffen“, fordert Edouard Ohleyer. (hau/21.04.2016)