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Über die Forderung nach Schaffung legaler Fluchtrouten berät die Parlamentarische Versammlung der Union für den Mittelmeerraum bei ihrer Tagung im marokkanischen Tanger am Samstag, 28. Mai, und Sonntag, 29. Mai 2016. Auch im Blick auf den Nato-Einsatz in der Ägäis weist der SPD-Abgeordnete Detlef Müller im Interview darauf hin, dass die südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers Maßnahmen zur Eindämmung der Migration „naturgemäß eher skeptisch gegenüberstehen“. Müller, der dem Europaausschuss des Bundestages angehört, übt Kritik an der Uneinigkeit der arabischen Länder in der Flüchtlingspolitik. Das Interview im Wortlaut:
Herr Müller, mit der Flüchtlingspolitik befasst sich die Versammlung schon seit Jahren. Konnten die Parlamentarier zwischenzeitlich effektive Impulse zur Bewältigung dieses im Mittelmeerraum massiven Problems geben?
Natürlich werden in diesem Gremium nicht jene „harten“ Entscheidungen gefällt, die zur Lösung der Flüchtlingskrise führen könnten. Dazu hat die Parlamentarische Versammlung einfach keine Kompetenzen. Aber darum geht es auch gar nicht. Wichtig ist etwas anderes: Die Institution bietet in dieser Zusammensetzung die einzige Möglichkeit, die Anrainerstaaten des Mittelmeers zusammenzubringen. Es sitzen sogar Delegierte Israels mit arabischen Vertretern an einem Tisch, was natürlich alles andere als selbstverständlich ist. Allerdings soll es dieses Mal eine eigene Arbeitsgruppe zum israelisch-palästinensischen Konflikt geben, um die Diskussionen zu diesem Thema, die oft sehr viel Zeit beanspruchen, zu kanalisieren.
Wie beurteilt man in der Versammlung das Abkommen zwischen der EU und die Türkei sowie die Schließung der Balkan-Route? Die Folge könnte eine Verlagerung der Flüchtlingsströme sein, wovon Italien und Spanien, aber auch die südlichen Mittelmeeranrainer besonders betroffen sein dürften.
Das ist eine sehr spannende Frage, denn seit unserer Sitzung in Lissabon 2015 hat sich die Flüchtlingskrise ja noch weiter verschärft. Ich bin sehr neugierig, wie die Diskussionen hierzu in Tanger verlaufen werden. Der bei der Tagung zur Debatte stehende Entschließungsentwurf des Wirtschaftsausschusses spricht sich jedenfalls für die Schaffung legaler Flüchtlingsrouten aus.
In der Ägäis soll jetzt eine Nato-Flotte gegen Schleuser vorgehen. Wird dieser Einsatz des Militärbündnisses von den Staaten an der Südküste des Mittelmeers befürwortet? Oder stößt in jenen Ländern die Einbeziehung der Allianz in die Flüchtlingspolitik auf Ablehnung?
Die Mission der Nato in der Ägäis läuft ja schon. Das Mandat des Bündnisses beschränkt sich aber hauptsächlich auf die Aufklärung und ist insofern deutlich enger gefasst als der Auftrag der EU-Operation Sophia. Der Nato-Einsatz hat im Kern vor allem eine unterstützende Funktion. Die südlichen Mittelmeeranrainer stehen indes Maßnahmen, die der Eindämmung der Migration dienen, naturgemäß eher skeptisch gegenüber.
Wie geht die Versammlung mit dem Problem Libyen um? Dieses bei Flüchtlingen beliebte Transitland hat keine funktionierenden staatlichen Strukturen, an eine Bewältigung der Migrationsströme ist da nicht zu denken. Sind in Ihrem Gremium libysche Delegierte, für die zehn Sitze vorgesehen sind, überhaupt präsent?
Libyen ist das Paradebeispiel eines „failed state“, eines schwachen, eines nicht funktionierenden Staats. Solange es dort keine landesweit effektiven Regierungsstrukturen gibt, ist von libyscher Seite keine Hilfe bei der Lösung des Flüchtlingsproblems zu erwarten. Derzeit ruht wegen der aktuell instabilen Lage die Mitgliedschaft dieses Lands in der Parlamentarischen Versammlung. Eine Vorlage des Politischen Ausschusses, über die im Plenum debattiert und abgestimmt wird, fordert die Mitglieder unseres Gremiums jedoch auf, die libysche Einheitsregierung zu unterstützen.
Münden die Diskussionen unter den Parlamentariern in die ernüchternde Einsicht, dass in der Flüchtlingspolitik im Mittelmeerraum ein schlüssiges Gesamtkonzept schlicht unmöglich ist? Und dass man nur versuchen kann, pragmatisch mal hier, mal dort besonders massive Probleme einzudämmen?
Diese Erkenntnis wird sicher nicht öffentlich, sondern nur hinter vorgehaltener Hand geäußert. Ich will indes offen sagen: Über die Flüchtlingspolitik herrscht ja nicht einmal Einigkeit unter den von Migrationsströmen unmittelbar betroffenen wie auch sonstigen arabischen Staaten dieser Region. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, einen allgemeinen „Masterplan“ zu entwickeln. Aber selbstverständlich wird sich die Parlamentarische Versammlung dafür aussprechen, gemeinsame und ausgewogene Lösungen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zu suchen.
(kos/20.05.2016)