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Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 17. März 2014)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Der Osteuropaexperte Ewald Böhlke hat mit Blick auf den Konflikt in der Ukraine einen Rückfall in eine außenpolitische Logik des 19. Jahrhunderts kritisiert.
„Russland geht dahin zurück mit seiner Aktion auf der Krim, aber auch wir sind nicht ganz frei von diesem Denken“, sagte der Direktor der Berthold-Beitz-Zentrums bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. „Wir leben im 21. Jahrhundert, wir sind eng vernetzte Gesellschaften, denen man nicht mit der Einflusssphärenpolitik des 19. Jahrhunderts kommen kann.“ Die Einsicht aus den Schrecken des 20. Jahrhunderts könne jetzt nicht sein, in ein Muster wechselseitiger Drohungen zwischen Europa und Russland zu verfallen und das über die Ukraine auszutragen, sagte Böhlke.
Wichtig sei nach wie vor, die Konfliktparteien in der Ukraine in gemeinsamer Begleitung von Russland und Europa an einen Tisch zu bringen. „Klug wäre es zum Beispiel, runde Tische in den Regionen der Ukraine zu ermöglichen, um die Zivilgesellschaft überhaupt einmal zu Wort kommen zu lassen“, sagte Böhlke. Unter Janukowitsch habe die Zivilgesellschaft kaum eine Stimme gehabt, aber die Neuen in Kiew hätten zunächst auch wieder über die Köpfe hinweg gesprochen – zum Beispiel bei der Frage, ob Russisch als zweite Amtssprache zurückgenommen wird.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Böhlke, warum hat der Streit um die Ukraine eine so große Bedeutung?
Ewald Böhlke:Der Ukraine-Konflikt ist eigentlich ein typischer Konflikt, wie wir ihn hundertfach in Europas Geschichte kennen – einschließlich der Fehlwahrnehmungen auf allen Seiten. Das führt dann zu einer Art Kindergartenpolitik: Man freut sich, wenn man den Sandkasten des anderen zerstören kann. Russland geht dahin zurück mit seiner Aktion auf der Krim, aber auch wir sind nicht ganz frei von diesem Denken. Das ist keine moderne Politik. Wir leben im 21. Jahrhundert, wir sind eng vernetzte Gesellschaften, denen man nicht mit der Einflusssphärenpolitik des 19. Jahrhunderts kommen kann.
Manche sprechen bereits von der Wiederkehr des Kalten Krieges. Sind das Übertreibungen oder realistische Szenarien?
Böhlke: Der Kalte Krieg war ein Krieg im Sinne einer Blocklogik unter den Bedingungen der gegenseitigen atomaren Bedrohung. Davon kann heute keine Rede sein und wir müssen solche Begrifflichkeiten auch mal ablegen. Ja, es gibt großen Verdruss gegenüber Russland, es wird aber andererseits in den Weltmärkten neue Beziehungen und intensive Verflechtungen mit Russland geben. Putin ist es im Augenblick ziemlich egal, welches Bild er in Westeuropa abgibt. Der Grund ist relativ einfach: Er sieht gute Chancen, sein Land mit Blick auf Asien und den Nahen Osten neu aufzustellen. Das Wort des Westens ist für Putin nur ein Wort unter vielen. Wir müssen darüber nachdenken, ob das eine berechtigte Konzeption ist oder ob es in unserem Interesse ist, dass Russland seine im Kern europäische Orientierung behalten sollte.
Ist der Westen im Fall der Ukraine zu zurückhaltend, muss er womöglich eine Sprache finden, die Putin versteht?
Böhlke: Wer glaubt, man könne Moskau wirksam isolieren, der übersieht die umfassende Vernetzung zwischen Europa und Russland. Das betrifft eben nicht nur die Wirtschaft, das betrifft die Zusammenarbeit in der Wissenschaft, Austauschprogramme, die Arbeit zwischen NGOs, Städtepartnerschaften und so weiter. Mit Metternich-Methoden in diese vernetzte Gesellschaften hineinzugrätschen, halte ich für hochgefährlich. Das wäre in der Tat eine Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg, wo man in den Hauptstädten außenpolitische Kettenreaktionen startete in der Annahme, das Großmachtsystem Europas sei belastbar.
Warum ist Russland der Einfluss in der Ukraine eigentlich so wichtig?
Böhlke: Man muss wissen, dass die Kiewer Rus als mittelalterliches Großreich in Europas Osten aus einer epochalen Entscheidung hervorgegangen ist, der Frage nämlich, ob man sich dem muslimischen oder dem orthodoxen Glauben zuwendet. Diese gemeinsame Geschichte verbindet Russen, Weißrussen und Ukrainer bis heute. Die Kiewer Rus lag zudem im Spannungsfeld zwischen Byzanz und dem Nowgoroder Norden, der am regen Handel im Ostseeraum teilnahm. Beide Pole, Westen und Osten, Europa und Asien, bildeten die eigentliche Grundlage der Reichsidee Russlands und sie prägen das russische Selbstverständnis bis heute. Sewastopol auf der Krim war mehr als 200 Jahre im russischen Einflussgebiet, beginnend unter der Herrschaft Katharina der Großen, die sich dabei auch auf die Saporoger Kosaken stützten konnte. Deren nie verwirklichter „Kosakenstaat“ gilt wiederum als wichtiger historischer Anknüpfungspunkt der ukrainischen Nation. Es gibt ein berühmtes Bild des russischen Malers Ilja Repin, das die Saporoger Kosaken beim Verfassen eines deftigen Briefes an den türkischen Sultan zeigt, der ihre Unterwerfung gefordert hatte. Man kann darin in vielen Motiven den Maidan wiederfinden, die Kommunardenkultur, das Basisdemokratische, die selbstbewusste Auflehnung gegen eine als fremd empfundene Herrschaft.
Hat die EU das Interesse Moskaus am Einfluss in der Ukraine unterschätzt – unabhängig von der Frage, ob man diesen Anspruch des Kremls für gerechtfertigt hält?
Böhlke: Es gab von 1998 bis 2013 ja unterschiedlich intensive Prozesse und Versuche, ein Abkommen zwischen der EU und der Ukraine zu schließen. Besonders intensiv wurde das in den vergangenen Jahren im Lichte der Georgienkrise im Jahre 2008. Und das Fatale ist, dass wir in eine Situation gekommen sind, in der sich die russische und die europäische Seite sozusagen um eine Braut prügeln und im Eifer des Gefechts gar nicht mitbekommen, dass die Braut am Boden liegt. Mich irritiert zudem eine Vielzahl von Oberflächlichkeiten. Das fängt bei der Frage an, wer unsere Partner in der Ukraine sind. Die Europäische Union ist ein Projekt des Integrationsprozesses zwischen Demokratien – sie hat aber auf dem Maidan auch den ukrainischen Nationalismus mit all seinen fragwürdigen Facetten unterstützt, darunter Rechtsextreme im Umfeld der Partei „Swoboda“. Die Ukraine ist in ihrer heutigen Form ein Produkt Hitlers und Stalins und ein Ergebnis des Zweiten Weltkriegs. Es scheint oft so, als würden wir hier über das Mittelalter sprechen und über ein Land, mit dem etwa wir Deutsche wenig bis gar nichts zu tun gehabt hätten. Die Einsicht aus den Schrecken des 20. Jahrhunderts kann doch jetzt nicht sein, in ein Muster wechselseitiger Drohungen zwischen Europa und Russland zu verfallen und das über die Ukraine auszutragen.
Um mit dem Wort des russischen Dissidenten Nikolai Tschernyschewski aus dem 19. Jahrhundert zu sprechen: Was tun? Wie ließe sich der Konflikt entschärfen?
Böhlke: Es gibt viele Möglichkeiten das zur organisieren, bevor man wechselseitig über eine weitere Verschärfung oder Einrichtung von Sanktionen spricht. Die Möglichkeiten werden bisher leider nicht ausreichend genutzt. Die Konfliktparteien in der Ukraine gehören nach wie vor an einen Tisch – am besten unter gemeinsamer Begleitung von Russland und Europa im Rahmen der
OSZE. Wir hatten mal einen KSE-Vertrag, der Rüstungsbeschränkungen in Europa durch gegenseitige Kontrolle ermöglicht hat. Alle Seiten akzeptieren diesen Ansatz eigentlich bis heute. Es gibt so viele konkrete Möglichkeiten, die Situation zu entschärfen. Das sind ganz praktische Fragen. Wer sind diese angeblichen Selbstverteidigungskräfte auf der Krim? Moskau sagt, es seien keine russischen Soldaten. Das erscheint mir sehr seltsam. Aber ein klares Bild, wer da ohne Abzeichen an den Uniformen agiert, das haben wir bis jetzt nicht, auch weil diese Kräfte Vertretern der OSZE bislang den Zugang verweigern.
Hat die neue Führung in Kiew das Zeug, Vertrauen im ganzen Land gewinnen?
Böhlke: Klug wäre es zum Beispiel, runde Tische in den Regionen der Ukraine zu ermöglichen, um die Zivilgesellschaft überhaupt einmal zu Wort kommen zu lassen. Wir wissen nicht, was die ukrainischen Gewerkschaften denken, wir wissen nicht, was die Lehrerorganisationen denken, wir wissen nicht, was die Ärztegesellschaft denkt – wir wissen eigentlich oft gar nichts von der Ukraine. Unter Janukowitsch hatte die Zivilgesellschaft kaum eine Stimme, aber die Neuen in Kiew haben zunächst auch wieder über die Köpfe hinweg gesprochen – zum Beispiel bei der Frage, ob Russisch als zweite Amtssprache zurückgenommen wird. Auf der anderen Seite formuliert man im russischsprachigen Lager in der Ukraine den Anspruch auf Selbständigkeit der Krim. Da sind die nächsten Konflikte schon vorprogrammiert: Charkow, Donezk und andere Regionen könnten an diesem Gebilde womöglich auch teilnehmen oder gar über einen Anschluss an Russland abstimmen wollen.
Ist die Korruption der womöglich größere Hemmschuh für die Ukraine als ihre kulturelle Spaltung?
Böhlke: Es war ja ursprünglich eine zentrale Forderung des Maidans, das Parlament aufzulösen. Das System ist so korrupt, dass man es von der Wurzel her verändern muss – so sahen das die Studenten. Die Forderung hat sich auch deshalb nicht durchgesetzt, weil es aus Janukowitschs Partei aber eben auch aus den früheren Oppositionsparteien, die jetzt am Ruder sind, hieß: Die Abgeordnetensitze waren zu teuer, man will sie nicht aufgeben. Jetzt hat man sich auf Janukowitsch als Spitzbuben geeinigt. Das verweist auf ein großes Problem der Ukraine – auf oligarchische Strukturen und auf eine selektive Rechtsprechung. Beides gehört untrennbar zusammen. An diesem Grundproblem hätte übrigens auch eine Aufhebung des Urteils gegen Julia Timoschenko, wie das auf EU-Seite damals gefordert wurde, nichts geändert. Oligarchen meinen stets, ihre Gegner so schlagen zu müssen, bis diese auf der Erde liegen. Das ist nie ein Wettbewerb, nie ein Diskurs, nie ein Dialog oder der Versuch eines Interessensausgleichs. Und das spiegelt sich eben auch im Umgang im Parlament in Kiew.
Hätten die Außenminister aus Deutschland, Frankreich und Polen Ende Februar bei Ihren Verhandlungen in Kiew viel stärker auf den Zettel nehmen müssen, was mit der Ukraine bei einem plötzlichen Machtvakuum passiert?
Böhlke: Da wird den Dreien unrecht getan. Es ging ihnen darum, in einer ganz bestimmten Situation eine fürchterliche Eskalation zu verhindern. Dass Janukowitschs Administration auseinanderfallen würde, war nicht absehbar. Im Übrigen: Umbrüche sind nicht planbar. Wer Umbrüche für planbar hält, der meint eigentlich Transformation.
Das Assoziierungsabkommen war eine Einladung der EU an die Ukraine zu einer solchen Transformation. Hat man das gespaltene Land damit überfordert? Ein Beispiel: Eine EU-Studie empfahl etwa die Schließung von fast 30 Kohlegruben im Donbass, also im russischsprachigen Teil der Ukraine, binnen weniger Jahre.
Böhlke: Ökonomisch gesehen war der Kohleabbau im Donbass schon in den 1980er Jahren ein Desaster. Das ist auch heute noch so, im Vergleich etwa mit den sibirischen Abbaugebieten ist Kohle aus dem Donbass völlig überteuert. Die andere Seite ist, dass man aus EU-Sicht riesige Folgekosten einer Assoziierung von vornherein ausschließen wollte. Verstehe ich sehr gut, das ist eine pragmatische Beamtensicht. Aber bei solchen Verhandlungen muss die politische Dimension in den Blick genommen werden. So wie in Russland die Ukraine Chefsache ist, so muss die Ukraine eigentlich auch in der EU Chefsache sein. Das haben wir in Europa leider lange vernachlässigt.
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