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Er ist Wirtschaftsinformatiker, 42 Jahre jung und hat fast 20 Jahre parlamentarische Erfahrung. Stefan Liebich ist Politiker der Partei Die Linke, für deren Vorgängerpartei PDS er schon mit 22 Jahren ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt wurde. Er entschied sich, Politik zu seinem Beruf zu machen, weil er Berlin politisch verändern wollte. Im Jahr 2001 übernahm Stefan Liebich den Landesvorsitz der Berliner PDS von Petra Pau, der heutigen Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Nur einen Tag nach seiner Wahl führte er bereits Sondierungsgespräche mit der SPD für eine rot-rote Regierung in Berlin.
Seit 2009 ist Stefan Liebich Bundestagsabgeordneter im Wahlkreis Berlin Pankow – Prenzlauer Berg – Weißensee. Er trat gegen Wolfgang Thierse an, der seinen Spitzenplatz im Wahlkreis an den damals 36-jährigen Linkspolitiker verlor. Liebich erklärt sich die große Zustimmung vieler Bürger so: „ Ich habe mir eine Basis unabhängig von alten Ost-West-Klischees aufgebaut. Mit vielen Menschen bin ich immer wieder in einem konstruktiven Dialog, der auch kontrovers sein kann, denn ich scheue die ehrliche Auseinandersetzung nicht.“
In den Monaten nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 traten von den ehemals 2,3 Millionen SED-Mitgliedern etwa 95 Prozent aus der Partei aus und wurden nicht Mitglieder der PDS. Stefan Liebich tat genau das Gegenteil. Er trat an seinem 18. Geburtstag in die PDS ein und begründet diese ungewöhnliche Entscheidung heute so: „Ich war ein junger Mensch, der gern in der DDR gelebt hat. Meine Kindheit war glücklich und der Sozialismus für mich kein Schreckgespenst. Ich hatte mit meinen Eltern viele und intensive politische Diskussionen. Wir fanden nicht alles richtig, was in der DDR passierte, aber wir standen dazu, und ich war davon überzeugt, im besseren der beiden deutschen Staaten zu leben. Mich verunsicherte die Vereinigung. Deshalb bin ich ganz bewusst gegen den Strom geschwommen.“
Stefan Liebich zog mit seinen Eltern 1983 von Greifswald nach Berlin. An der Erweiterten Oberschule „Albert Einstein“ in Berlin-Marzahn legte er das Abitur ab. Er war noch vor seinem 18. Geburtstag Mitbegründer der Marxistischen Jugendvereinigung Junge Linke, einer linksorientierten Jugendorganisation, die sich ein Jahr später mit den westdeutschen JungdemokratInnen zusammenschloss und sich den Namen JungdemokratInnen/Junge Linke gab.
Nach dem Abitur absolvierte der junge Linke Liebich ein duales Studium der Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik an der Technischen Fachhochschule Berlin und in dem Unternehmen IBM. Er sagt über diese Zeit, in der er sich bereits sehr intensiv politisch engagierte: „In meinem Studiengang war ich wohl der Einzige, der sich parteipolitisch engagierte. Meine Kommilitonen kamen aus ganz Deutschland, und die Reaktion auf mein Engagement in der PDS war sehr unterschiedlich. Es reichte von ‚Wäre nicht mein Weg‘ bis zu völligem Unverständnis, wie man sich bei ‚den Kommunisten‘ engagieren könne.“
Anfang der 1990er-Jahre wurde ein Verbot der PDS diskutiert, und Stefan Liebich erinnert sich an ein Gespräch, das er mit seinem Großvater führte. Der sagte ihm, seine berufliche Zukunft sei in Gefahr, wenn er sich weiter in der PDS engagieren würde. Stefan Liebich dachte darüber nach und sagt heute: „Ich habe linke Standpunkte immer aus voller Überzeugung vertreten und nicht deshalb, weil ich mir berufliche Vorteile versprach. Ich hatte damals auch nicht den Beschluss gefasst, Politik zu meinem Beruf zu machen. Ich konnte ja nicht wissen, dass ich einmal Bundestagsabgeordneter sein würde. In solche Kategorien dachte ich damals nicht.“
1995 schloss Stefan Liebich sein Studium mit dem Diplom ab, erhielt bei IBM einen Arbeitsvertrag und kandidierte im gleichen Jahr erstmals für das Berliner Abgeordnetenhaus. „Ich trat im Wahlkreis Marzahn, Ortsteil Biesdorf, an, einem gutbürgerlichen Wahlkreis, in dem eine linke Partei eigentlich chancenlos war. Die PDS erzielte aber 1995 in Berlin ein grandioses Wahlergebnis, gewann viele Wahlkreise, und auch die Biesdorfer haben mich direkt ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Das war für mich eine Überraschung und eine große Freude“, erinnert sich Stefan Liebich.
Es war der Beginn einer bis heute lückenlosen Politikkarriere. Stefan Liebich war Landesvorsitzender seiner Partei in Berlin, führte die PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus vier Jahre lang bis 2006 und danach bis 2009 die Linksfraktion als stellvertretender Fraktionsvorsitzender.
„Es war eine spannende Zeit, die mich enorm gefordert hat. Wenn man in einer Stadt wie Berlin Vorsitzender einer Koalitionspartei ist, ist man als Gesprächspartner sehr gefragt. Ich gebe zu, dass ich aufpassen musste nicht abzuheben. Ich habe das mit meiner Familie und meinen Freunden geschafft, die mich immer wieder geerdet haben. Die Verantwortung war enorm groß, denn wir regierten ja nicht in Ost-Berlin, sondern machten Politik für die Menschen in ganz Berlin. Mit Wirtschaftssenator Harald Wolf, der aus dem Westteil kam, haben wir uns daran gemacht, die vielen Klischees und Vorurteile zu überwinden, die zwischen Ost und West noch herrschten. Die rot-rote Koalition regierte Berlin zehn Jahre, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir einen wichtigen Beitrag zum Zusammenwachsen der Stadt geleistet haben.“
In den Jahren 2002 und 2005 hatte Stefan Liebich bereits bundespolitische Ambitionen, er kandierte im Wahlkreis Mitte und dann in Pankow für den Deutschen Bundestag. „Die Kandidatur 2002 hatte für mich symbolischen Charakter, denn ich hatte ja im Abgeordnetenhaus Berlin eine wichtige Funktion übernommen. Leider ist meine Partei auch nicht über die Fünf-Prozent-Hürde gekommen. Zur vorgezogenen Bundestagswahl im Jahr 2005 schaffte die Linkspartei.PDS zwar erstmals den Einzug in den Bundestag, aber ich habe das Mandat damals verpasst“, sagt der Politiker.
Vier Jahre später forderte der junge, aber inzwischen erfahrene Linkspolitiker den Sozialdemokraten Wolfgang Thierse erneut als Direktkandidat heraus. Er überholte ihn mit einem Stimmenvorsprung von 1,4 Prozent der Erststimmen, und das in einem Wahlkreis, den man nicht mehr als klassischen Ostbezirk mit überwiegend linker Stammwählerschaft bezeichnen kann. Liebich sagt: „Dieser Wahlsieg war erstaunlich, weil Wolfgang Thierse als ehemaliger Bundestagspräsident vielen Menschen gut bekannt war, ich aber nicht. Es hat mich aber gefreut, dass ich viele Wähler überzeugen konnte. Zu meinem Wahlkreis gehören neben älteren Menschen, die schon lange hier leben, auch bürgerliche Familien mit Westhintergrund, die in den letzten Jahren nach Pankow gezogen sind. Und natürlich auch die hippen Prenzlauer-Berg-Wähler.“
Ins Wahljahr 2013 konnte Die Linke nicht optimal starten, sondern verzeichnete seit der Bundestagswahl 2009 einen stetigen Rückgang in den Umfragewerten. Der Wechsel der Parteispitze konnte die Werte zwar etwas stabilisieren, aber anhaltende Personalquerelen sowie das Ausscheiden der Linken aus den Landtagen von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein trübten die Stimmung weiter.
„Transparenz ist wichtig und richtig, aber öffentlich ausgetragene Personaldebatten waren und sind kontraproduktiv. In der Zeit ab dem Jahr 2010, als sich Lothar Bisky und Oskar Lafontaine vom Parteivorsitz verabschiedet hatten, hat meine Partei zu viel Energie aufgewendet, um Personaldiskussionen zu führen und die Zeit auf Nebenschauplätzen zu verbringen. Dass uns das viele Wähler übel genommen haben, zeigte sich im Wahlergebnis. Die Linke sollte sich auf Inhalte konzentrieren. Das erwarten die Wähler von uns“, sagt der Abgeordnete. Im Wahlkreis Berlin-Pankow gewann Stefan Liebich 2013 allerdings, anders als seine Partei, Stimmen hinzu. Er konnte mit einem Wahlergebnis von 28,3 Prozent der Erststimmen erneut in den Bundestag einziehen und ist dort Obmann seiner Fraktion im Auswärtigen Ausschuss.
Der Auswärtige Ausschuss ist einer der wichtigsten Ausschüsse im Deutschen Bundestag. Stefan Liebich sagt: „Im Auswärtigen Ausschuss gibt es meist fraktionsübergreifend einen guten Austausch. Auch wenn Die Linke oft andere Positionen vertritt als CDU/CSU, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen, herrscht im Ausschuss eine kollegiale Atmosphäre. Hat ein Kollege einer anderen Fraktion nachvollziehbare und vernünftige Argumente zu einem Thema, dann verschließe ich mich nicht, denn es geht nicht darum, aus Prinzip gegen etwas zu sein.“ Der Linkspolitiker hält auch nichts davon, dass die scharfen Auseinandersetzungen, die die Fraktionen oft im Plenum austragen, im Ausschuss wiederholt werden. Ihm geht es darum, internationale Konflikte realistisch zu bewerten und über den besten Lösungsvorschlag zu diskutieren.
Besonders auf den Nägeln brennt Stefan Liebich der Konflikt in der Ukraine, der mitten in Europa ausgetragen wird und bei dem bisher mehr als 6.000 Menschen uns Leben kamen. „Natürlich ist das Verhalten von Russland zu kritisieren, denn die Annexion der Krim verstieß und verstößt noch immer klar gegen das Völkerrecht. Trotzdem sollten wir die Situation nicht weiter eskalieren lassen und mit Russland wieder ins Gespräch kommen. Ohne Russland ist eine Lösung im Ukraine-Konflikt kaum möglich, und diese Position vertrete nicht nur ich, sondern auch Kollegen anderer Fraktionen“, sagt Stefan Liebich. (bsl/03.08.2015)