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Gefragt nach seiner Bilanz für zweieinhalb Jahre schwarz-rote Koalition muss Dr. Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, nicht lange nachdenken: Der Arbeit der Opposition, insbesondere seiner Linken, könne er gute Noten geben. Die habe sich nämlich in die neue Rolle als Oppositionsführerin gefunden und es sei ihr trotz der schwarz-roten Übermacht im Bundestag immer wieder gelungen, die Regierungsfraktionen, die Linke und Grüne „ja machtpolitisch nicht ernst nehmen müssen“, mit ihren Anträgen und Anmerkungen immer wieder zu ärgern. SPD und Union hätten insbesondere bei den Debatten um die Griechenland-Krise und den NSA-Skandal mehrfach „angefasst und empfindlich reagiert“ - das verbuche er als Erfolg.
Doch geht es um die inhaltliche Arbeit der Großen Koalition, zieht Gysi ein bitteres Fazit - und befindet sich damit in Übereinstimmung mit dem Fraktionschef der Grünen, Dr. Anton Hofreiter. Der sagt, er sei „extrem unzufrieden“, zur Halbzeit der „Groko“ könne man nur schlechte Noten geben.
Überraschend kommt das nicht: Schon im November 2013 hatte Hofreiter nach dem Studium des Koalitionsvertrags beklagt, die Große Koalition vergesse wichtige Zukunftsthemen. Die Energiewende werde zugunsten der Kohle- und Atomkonzerne gestoppt und die ökologische Modernisierung der Wirtschaft nicht vorangebracht: Schwarz-Rot koste Arbeitsplätze und Zukunftschancen. Und Gregor Gysi ließ wissen, das Vertragswerk werde die soziale Spaltung in Deutschland verstärken und habe die Belange der Ostdeutschen vernachlässigt.
Auch nach gut eineinhalb Jahren hat sich die Fundamentalkritik nicht geändert. Beide Oppositionsführer ärgern sich darüber, dass der größte Erfolg von Schwarz-Rot, die „schwarze Null“, als Ergebnis der Politik gefeiert werde, letztlich aber nur den aktuellen wirtschaftlichen Verhältnissen und der aktuellen Zinslage geschuldet sei. Einsparungen bei Zinsen, nicht tatsächliche Gewinne machten den ausgeglichenen Haushalt möglich. Aus Sicht Hofreiters nimmt die Groko durchaus Schulden auf, indem sie etwa Straßen und Schienen „verlottern“ lasse. Nur tauche diese Art Schulden nicht im Bundeshaushalt auf.
Bei den Zukunftsthemen sei, so Hofreiter, „bislang nichts unternommen worden“: weder bei der nötigen Neuausrichtung der EU-Politik noch bei einer ökologisch nachhaltigen Industriepolitik oder dem Klimaschutz. Die SPD habe „brav“ ihre Liste mit Mindestlohn - den seine Fraktion schon lange gefordert habe -, Rente mit 63 und Mietpreisbremse abgearbeitet. Durch verschiedene Ausnahmeregelungen sei jedoch höchst fraglich, was die Gesetze am Ende tatsächlich bewirken werden. Außerdem habe die SPD nichts gegen Altersarmut, Wohnungsknappheit oder für die Stärkung der europäischen Institutionen getan.
Auch Gregor Gysi findet die Mütterrente und die Rente mit 63 grundsätzlich ebenso begrüßenswert wie den Mindestlohn, sagt aber, alle Projekte seien nicht grundlegend angegangen worden. Er habe bis heute nicht verstanden, warum Mütter für Kinder, die ab 1992 geboren wurden, noch immer mehr Rente bekommen und „Ost-Kinder weniger wert sein sollen als West-Kinder“.
Die Rente mit 63 sei zwar „ein Schritt in die richtige Richtung“. Weil sie aber nur die betreffe, die 45 Jahre beitragspflichtig gearbeitet hätten, werde sie für die nächsten Generationen „eine absolute Rarität“ sein. Auch die Ausnahmen beim Mindestlohn würden ihn ärgern, so Gysi: „Dass Langzeitarbeitslose darauf sechs Monate lang keinen Anspruch haben, ist demütigend.“ Auch die Mietpreisbremse fällt bei Gysi und Hofreiter durch: Die sei so unvollständig, dass die Wohnungsnot in den großen Städten damit nicht behoben werden könne.
Beide Oppositionspolitiker erwarten von Union und SPD für die kommenden Monate vor allem Anstrengungen in Sachen Flüchtlingspolitik - und ein klares Bekenntnis gegen Fremdenfeindlichkeit. Es sei ein Unding, so Hofreiter, dass Kanzlerin Merkel bis heute nicht in einem Asylbewerberheim gewesen sei; Schwarz-Rot müsse bei dem Thema „endlich Haltung zeigen“. Das sieht Gysi genauso: Als Politiker müsse man „dahin gehen, wo es unangenehm ist“ und dürfe auch die Wirkung von Symbolpolitik nicht vergessen. (suk/24.08.2015)