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Vor 20 Jahren, am 16. Januar 1996, sprach Ezer Weizman als erster israelischer Präsident im Deutschen Bundestag. Mehr als fünf Jahrzehnte nach dem Holocaust und drei Jahrzehnte nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sprach erstmals der oberste Repräsentant des jüdischen Staates zu den Abgeordneten. Ein Tag, der zu den „herausgehobenen, seltenen Ereignissen in unserem Parlament“ zählt, wie die Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth bei der Begrüßung des Staatsgastes erklärt hatte.
„Wir haben aus der politischen und moralischen Katastrophe gelernt“, versicherte sie dem israelischen Präsidenten. Süssmuth betonte: Was dem jüdischen Volk von Deutschen in der NS-Diktatur an unendlichem Leid zugefügt worden sei, an Rassenhass und systematischem Völkermord, dürfe niemals vergessen werden und bleibe entscheidend für die deutsche Zukunftsverantwortung gegenüber Israel. 50 Jahre nach dem Ende des Holocausts seien Erinnern und Gedenken in Deutschland nicht schwächer, sondern stärker geworden.
Auch wenn dieses Deutschland, wie Süssmuth eingangs betont hatte, ein anderes, ein demokratisches, ein auf Europa ausgerichtetes Deutschland sei, das die notwendigen Konsequenzen aus Hass und Völkermord, Krieg und Vertreibung gezogen habe und sich seiner Verantwortung bewusst sei – für den Staatsgast war es vor dem Hintergrund der Vergangenheit kein leichter Besuch.
„Erst 50 Jahre, ein Augenblick in der langen Geschichte meines Volkes, sind vom Ende des schrecklichen Krieges bis zum heutigen Tag vergangen. Nicht leicht fiel es mir, das Konzentrationslager Sachsenhausen zu besuchen. Nicht leicht ist es für mich, in diesem Land zu sein, die Erinnerungen und die Stimmen zu hören, die von der Erde zu mir schreien. Nicht leicht ist es, hier zu stehen und zu Ihnen zu sprechen, meine Freunde in diesem Haus.“
Der damals 71-Jährige erinnerte an 200 Generationen jüdischen Lebens, an erlittene Verbrechen und gelebte Hoffnung, daran, dass in Deutschland bis zur Zerstörung durch die Nationalsozialisten die größte und älteste jüdische Gemeinde in Europa existierte. Er sprach von den Millionen von Nazis ermordeten Juden.
„Jeder und jede Einzelne von ihnen ist zweimal getötet worden: einmal als Kind, das die Nazis in die Lager geschleppt haben, und einmal als Erwachsener, der er oder sie nicht sein konnte. Denn der Nationalsozialismus hat sie nicht nur ihren Familien und den Angehörigen ihres Volkes entrissen, sondern der gesamten Menschheit.“ Als Präsident des Staates Israel könne er über sie trauern und ihrer gedenken, aber er könne nicht in ihrem Namen vergeben.
Er appellierte an Bundestag und Bundesrat, in ihrem Wissen um die Vergangenheit ihre Sinne auch auf die Zukunft zu richten, dass sie Neonazismus und Rassismus weiter mutig bekämpfen und von der Wurzel her ausreißen, auf dass sie nicht wachsen und Zweige und Wipfel bekommen.
Der Präsident dankte der Bundesrepublik aber auch „herzlich für die Freundschaft und die Zusammenarbeit, die zwischen Israel und Deutschland bestehen und die in wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen, kulturellen und vielen anderen Bereichen zum Ausdruck kommen“. Dabei hob er die Zusammenarbeit im Bereich der wissenschaftlichen Forschung und deren deutsche Förderung hervor. Der Präsident betonte die Bedeutung des deutschen Beitrags zur Stärke des Staates Israel und zum Friedensprozess im Nahen Osten.
Der Friedensprozess sei der wichtigste seit der Gründung des jüdischen Staates, und derzeit befinde man sich auf einem Höhepunkt. Länger als 100 Jahre habe man auf diesen Frieden gehofft und sich bemüht, ihn zu erreichen. „Wir pflegen diesen zerbrechlichen, empfindlichen Friedensprozess, weil wir voller Hoffnung sind“, sagte Weizman.
Die Terrororganisationen und extreme islamische Staaten trachteten ebenso wie „radikale Elemente in unserer Mitte“ danach, den Friedensprozess zu sabotieren. Die Situation sei geladen, nicht nur wegen der mörderischen Radikalität, die diesen Frieden zunichtemachen wolle, sondern auch, weil selbst die Friedensstifter Befürchtungen hegten und die Wunden auf beiden Seiten noch offen, die Erinnerungen noch frisch seien.
Im Nahen Osten, wo jahrtausendealte antike Elemente der Rache und Abrechnung in wirrem Durcheinander bestehen, sei doppelte Vorsicht geboten, erklärte er und mahnte: „Nehmen Sie die Dinge bitte nicht leicht. Wir versuchen einen Frieden zu schaffen, der uns ins 21. Jahrhundert führt. Aber alte Kreuzfahrerkarten hängen an der Wand, und alte biblische Erinnerungen liegen in der Luft.“
Weizman hielt seine Rede in hebräischer Sprache. Er erklärte auch weshalb: „Es ist die Sprache, die mehr als alles andere Symbol und Zeugnis für unsere Wiedergeburt ist. Wir und unsere Sprache leben. Wir, die wir uns aus der Asche erhoben haben, und unsere Sprache, die in den Leichentüchern der Thorarollen und zwischen den Seiten der Gebetsbücher gewartet hat, leben. Die Sprache, die nur im Gebet geflüstert, nur in Synagogen gelesen und nur in religiösen Texten gesungen wurde, die Sprache, die in den Gaskammern, im Gebet ,Shema Yisrael' geschrien wurde, sie ist zu neuem Leben erwacht.“
„Diese beiden Toten, die nach so vielen Jahren wieder zum Leben erwacht sind, der jüdische Staat und die hebräische Sprache, sind die Hauptelemente unseres Wesens in diesem Jahrhundert. Gerade in diesem Jahrhundert, das uns als Vernichtete und Tote gesehen hat, sind wir zu neuem Leben auferstanden.“
Ezer Weizman erhielt für seine Rede lang anhaltenden Beifall. Sein Auftritt im Parlament war der Höhepunkt eines viertägigen Staatsbesuches in Deutschland. (klz/08.01.2016)