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Als Entscheidung mit historischer Tragweite haben Redner aller Fraktionen die Zustimmung des Bundestages zur Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland ab 2015 gewürdigt. Im Zentrum der Diskussion standen, wie in den vergangenen Wochen bereits, die Ausnahmeregelungen für Praktikanten, Langzeitarbeitslose, Unter-18-Jährige und Zeitungszusteller, die von der Opposition heftig kritisiert wurden. Da nützte es wenig, dass die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles (SPD), die meisten von diesen Sonderregeln gar nicht als Ausnahme definierte. Am Ende der Debatte am Donnerstag, 3. Juli 2014, über das von der Bundesregierung vorgelegte Tarifautonomiestärkungsgesetz (18/1558, 18/2010 neu) stimmten in namentlicher Abstimmung 535 Abgeordnete für den Gesetzentwurf. Es gab fünf Gegenstimmen und 61 Enthaltungen.
„Zehn Jahre streiten wir uns nun über das Für und Wider eines Mindestlohns und jetzt kommt er, und das ist ein Meilenstein in der Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesrepublik“, betonte Nahles. Fakt sei, dass ab 2015 ein flächendeckender Mindestlohn gilt, ohne dass einzelne Branchen ausgenommen werden. Wer anderes behaupte, rede Unsinn, verteidigte sich die Ministerin, um im Anschluss zu den „sogenannten Ausnahmen“ zu kommen.
So seien zum Beispiel Zeitungsausträger „von Anfang an“ im Mindestlohn drin, nur eben zunächst nicht zu 100 Prozent, sondern in Form einer Übergangslösung. Auch die Ausnahme von Langzeitarbeitslosen verteidigte sie, denn es seien kaum Arbeitgeber bereit, Langzeitarbeitslose einzustellen. „Ich gebe zu, das ist eine befristete Ausnahme. Wir wissen auch nicht, ob sie funktioniert, deshalb evaluieren wir sie in zwei Jahren.“
Wichtiger sei es aber, „über den Kern des Gesetzes zu reden, und damit darüber, dass ab Januar 2015 fast vier Millionen Arbeitnehmer besser schlafen können“, sagte Nahles.
Für die Opposition waren die geplanten Ausnahmeregelungen jedoch der Kernpunkt ihrer Kritik und so appellierte Klaus Ernst (Die Linke): „Wir brauchen einen flächendeckenden Mindestlohn ohne Ausnahmen.“ Er bezeichnete das Gesetz als „grottenschlecht“, weil es Unter-18-Jährige, Langzeitarbeitslose und Zeitungszusteller diskriminiere.
„Bisher war es Grundsatz, dass man nur mit einem Tarifvertrag übergangsweise vom Mindestlohn abweichen kann, und nun machen Sie für die Zeitungsbranche eine Ausnahme“, empörte sich Ernst. Die Pressefreiheit in Deutschland hänge nicht von den Hungerlöhnen der Zusteller ab, wie die Regierung weismachen wolle.
„Wir haben lange dafür gekämpft, dass Wettbewerb nicht über Lohndumping ausgetragen wird. Schade ist nur, dass Ihr Gesetz der historischen Dimension nicht gerecht wird“, warf Brigitte Pothmer (Bündnis 90/Die Grünen) der Bundesregierung vor. Es sei durchdrungen von politischen Ränkespielen und dem Einfluss mächtiger Lobbygruppen, so ihre Kritik.
Auch Pothmer kritisierte die Sonderregelungen für Langzeitarbeitslose, Jugendliche und die Zeitungsbranche, wobei sie die Ausnahmen bei Langzeitarbeitslosen als „wirklich übel“ bezeichnete. In keinem anderen Mindestlohn-Land gebe es eine solche Regelung, weil diese Gruppe zu heterogen sei, um sie über einen Kamm zu scheren. Das tue aber der Gesetzentwurf, so Pothmer.
Karl Schiewerling (CDU/CSU) betonte die grundsätzliche Bedeutung des Gesetzes für die Tarifautonomie in Deutschland. Nur in einem ersten Schritt lege der Staat den Mindestlohn fest, danach seien wieder die Tarifpartner dafür verantwortlich, sagte er.
Mit diesem Prinzip des Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit sei die Bundesrepublik in ihrer bisherigen Geschichte gut gefahren und sollte deshalb daran festhalten. Grundlage der Arbeit der Mindestlohnkommission sollte es dabei immer sein, die gesamtwirtschaftliche Lage und die wirtschaftliche Prosperität des Landes im Blick zu haben.
Schiewerling stellte klar, dass seine Fraktion die Altersgrenze für den Mindestlohn lieber auf 21 Jahre angehoben hätte. „Wir wollen die Jugendlichen nicht ärgern, aber wir wollen nicht verantwortlich sein dafür, dass sie keine Ausbildung machen“, sagte er.
Für die SPD-Fraktion stand in der abschließenden Debatte das große Ganze im Mittelpunkt: „Wir haben in den Koalitionsverhandlungen darauf bestanden, dass, wer Vollzeit arbeitet, auch von dieser Arbeit leben können muss. Gesagt, getan, gerecht“, brachte es Katja Mast (SPD) auf einen Dreiklang.
Sie wies darauf hin, dass der Mindestlohn nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die Steuerzahler schütze, die nun keine Dumpinglöhne mehr gegenfinanzieren müssten. Außerdem stärke der Mindestlohn jene Unternehmen, die schon heute faire Löhne bezahlen. „Deshalb ist das für uns Sozialdemokraten heute ein bewegender Tag, wir sind stolz auf dieses Gesetz“, sagte Mast.
Das Tarifpaket sieht vor, erstmals in Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ab 2015 einzuführen. Tarifverträge mit einem niedrigeren Brutto-Stundenlohn sollen in einer Übergangsphase jedoch bis Ende 2016 gültig bleiben können, sodass der Mindestlohn erst ab 2017 voll greift.
Die vom Ausschuss für Arbeit und Soziales geänderte Fassung des Gesetzes (18/2010 neu) legt fest, dass die Mindestlohnkommission nicht jährlich, sondern alle zwei Jahre über eine Anpassung des Mindestlohns, orientiert an der nachlaufenden Tarifentwicklung, entscheidet. Der Zeitpunkt der erstmaligen Erhöhung des Mindestlohns wird jedoch von 2018 auf 2017 vorverlegt.
Neu sind auch separate Übergangslösungen für die Zeitungsbranche: So sollen Zeitungszusteller ab nächstem Jahr einen Anspruch auf 75 Prozent, ab 2016 auf 85 Prozent und ab 2017 dann auf 100 Prozent, also die vollen 8,50 Euro pro Stunde, haben. Für alle anderen Branchen sind Übergangslösungen nur aufgrund von Tarifverträgen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz möglich.
Geändert wurden außerdem die Ausnahmeregeln für Praktikanten: Zwar sind verpflichtende Praktika im Rahmen einer Ausbildung weiter grundsätzlich vom Mindestlohn ausgenommen. Bei Orientierungspraktika vor oder während einer Ausbildung gilt jedoch, dass erst nach drei Monaten und nicht wie bisher nach sechs Wochen der Mindestlohn gezahlt werden muss.
Neu definiert wird darüber hinaus die geringfügige, sozialversicherungsfreie Beschäftigung im Vierten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IV). Demnach liegt diese nun vor, wenn „die Beschäftigung innerhalb eines Kalenderjahres auf längstens drei Monate oder 70 Arbeitstage begrenzt ist, es sei denn, dass die Beschäftigung berufsmäßig ausgeübt wird und ihr Entgelt 450 Euro im Monat übersteigt“.
Bisher waren dies zwei Monate beziehungsweise 50 Arbeitstage. Kost und Logis von Saisonarbeitern können auf den Mindestlohn angerechnet werden. Laut Änderungsantrag soll diese Regelung möglichen „Problemen bei der Saisonarbeit durch Einführung des Mindestlohns Rechnung tragen“.
Mit 479 Nein-Stimmen bei 122 Ja-Stimmen lehnte das Parlament einen Änderungsantrag der Linken (18/2019) ab, die verlangt hatte, die Ausnahmeregelungen für Beschäftigte unter 18 Jahren und für Langzeitarbeitslose zu streichen. Zwei weitere Änderungsanträge der Linken (18/2017, 18/2018) fanden ebenfalls keine Mehrheit. Damit sollte die Möglichkeit, für einen Übergangszeitraum durch einen repräsentativen Tarifvertrag von der Mindestlohn-Zahlung abweichen zu können, gestrichen werden. Auch sollte der Mindestlohn von 8,50 Euro auf zehn Euro pro Stunde angehoben werden.
Der Bundestag lehnte gegen das Votum der Opposition ferner Entschließungsanträge der Linken (18/2020) und der Grünen (18/2021) zu dem Gesetz ab. Die Linke wollte, dass der Mindestlohn ausnahmslos für jedes Arbeitsverhältnis gilt, die Grünen plädierten ebenfalls, den Mindestlohn für alle Arbeitnehmer, also auch für vormals Langzeitarbeitslose sowie Jugendliche einzuführen und keine Sonderregelungen für Zeitungsausträger und Saisonarbeitskräfte zu treffen. Gegen das Votum der Linken lehnte der Bundestag schließlich einen Antrag der Linken (18/590) ab, einen Mindestlohn in Höhe von zehn Euro pro Stunde einzuführen.(che/03.07.2014)